Es gibt so Sachen, die findet man besser gut. Zumindest wenn einem an positiven Sozialkontakten gelegen ist: David Bowie, etwa, vor einigen Jahren Knut der Eisbär und natürlich UNICEF und Amnesty International. Kritik an diesen Säulenheiligen führt ohne Umweg ins gesellschaftliche Abseits. In der Berichterstattung jedenfalls ist Amnesty Papst. Unfehlbar, gut und sakrosankt. Wer das nicht uneingeschränkt unterschreiben mag, bei dem greift der Umkehrschluss. In Stichworten: Fehlbar, schlecht, und nun ja, eben ganz und gar nicht sakrosankt.

Angesichts dieser öffentlichen Wahrnehmung müssten gewählte Entscheidungsträger schon reichlich amtsmüde sein, um den jährlichen Amnesty Bericht zur Lage der Menschenrechte, der dieser Tage vorgestellt wurde, mit etwas anderem als mit Demut und bestenfalls selbstkritischer Zerknirschtheit entgegenzunehmen. Zumindest nach außen hin. Eine unbotmäßige Presseerklärung: „XYZ weist Amnesty-Kritik als abwegig zurück“ – jedenfalls dürfte auch dieses Jahr (zumindest außerhalb despotischer Autokratien) auf sich warten lassen.

Heuer fällt der Bericht erwartbar desaströs aus. Amnesty senkt den Daumen – meist völlig zu Recht. Detailliert und oft frustrierend präzise weist der Bericht nach, dass in 141 der 160 untersuchten Länder gefoltert wurde. In zwei von drei Staaten herrschte keine Meinungs- bzw. Pressefreiheit. In der Hälfte der untersuchten Länder konnten die Menschen – die Worte Bürgerinnen und Bürger verbieten sich – von gerechten Gerichtsverfahren nur träumen. So weit, so schlimm. Amnesty hat Recht: „Welt: Menschenrechte fünf. Setzen".

Könnte es aber sein, dass die Organisation etwas über das Ziel hinausschießt, wenn es um die Gründe für diese Situation geht? Schuld ist für Amnesty nämlich eine ausgemachte „Kontinuität des Wegschauens und eine zu egoistische Fokussierung auf nationale Interessen, die sich bei vielen Regierungen findet".

Sicher trifft das mancherorts zu. Doch richtig ist auch, dass mit der Überwindung nationaler Interessen bis Jahresende und auch bis zum nächsten und zum über-über-über-über-über-nächsten Amnesty-Jahresbericht kaum zu rechnen ist. Und gibt es nicht doch noch irgendwo einen Restunterschied zwischen postuliertem „Wegschauen“ und verantwortungsethischer Politik in der ganz realen Wirklichkeit?

Für Amnesty erfüllte im vergangenen Jahr gefühlt nur eine Person des globalen öffentlichen Lebens die hehren ethischen Anforderungen der Organisation: Angela Merkel - allerdings auch das nur teilweise und temporär. Längst gerinnt auch die Kanzlerin vor dem gestrengen Urteil der Report gewordenen Moral zur armen Sünderin. Denn: „Die Kanzlerin vom Februar 2016 meint mit ihrem ‚Wir schaffen das‘, dass Deutschland es schaffen wird, die Flüchtlingszahlen drastisch zu reduzieren, auch auf Kosten der Menschenrechte", meint Selmin Caliskan, Generalsekretärin von Amnesty Deutschland bei der Vorstellung des Berichts.

Sicher, an der aktuellen Politik der Bundesregierung (etwa in Bezug auf die Türkei) ist so manches auszusetzen. Aber abgesehen davon, dass die deutsche Politik gegenüber Ankara faktisch doch gerade dem Versuch des Kurshaltens geschuldet ist - und dabei zugleich dennoch über das medial vermittelte „Augen-zu-und-durch“ in der Flüchtlingspolitik hinausgeht - bleibt die Frage des Anspruches. Wenn selbst Mutti Courage Merkel, Person des Jahres und unausgesprochene Friedensnobelpreis-Kandidatin, die moralische Messlatte von Amnesty reißt, sagt das nicht nur etwas über Merkel, sondern auch über den Kriterienkatalog einer augenscheinlich unerreichbar hohen Sphäre der Gesinnungsethik.

Für die aber haben wir nicht nur schon einen Text, sondern sogar eine Hymne: Von John Lennon. Übrigens noch so eine Sache, die richtig gut ist. So wie UNICEF und Amnesty und Knut der Eisbär.

Den Bericht von Amnesty finden Sie hier.