So oder so: Der Bundestag wird mit der anstehenden Debatte über die Anerkennung eines palästinensischen Staates Geschichte schreiben. Ein Votum für Palästina würde das schwächste Glied in europäischen Beiträgen zum Frieden in Nahost endlich stärken. Ein negatives Votum würde die Palästinenser jedes politischen Horizontes berauben. Das jedoch würde nur zu mehr Gewalt führen oder zu einem strategischen Kurswechsel der Palästinenser, in dem sie ihr Streben nach Eigenstaatlichkeit in einen Kampf um gleiche Bürgerrechte in Israel verwandeln. Dabei würde die militärisch existierende Einstaatenlösung, die Israel in fast 50 Jahren der militärischen Besatzung vorangetrieben hat, durch die Erzwingung einer politischen Einstaaten-Realität ihre Entsprechung finden.
Palästina ist nicht durch eine Naturkatastrophe in diese historische Krise geraten. Vielmehr sind Enteignungen, Diskriminierungen und die anhaltende militärische Besatzung zu einem großen Teil das Ergebnis der kolossalen Tragödie der europäischen Juden. Wir Palästinenser zahlen für diese historische Tragödie noch heute den Preis. Es ist überfällig, dass dieser menschengemachte Albtraum ein Ende findet. Wenn der Bundestag palästinensische Staatlichkeit nun bewusst verweigern sollte, stünde das im totalen Gegensatz zur hergebrachten deutschen Position von zwei Staaten als Modell der Konfliktlösung. Die Integrität Deutschland steht auf dem Spiel.
Jetzt hat Deutschland die Gelegenheit, die Region vor zukünftiger Gewalt zu schützen und Israel vor sich selbst.
Auch in Deutschland haben Panikmacher giftige Attacken gegen den palästinensischen Staat gestartet. Ihre Arbeitsweise ist längst bekannt und sie ist andernorts immer wieder gescheitert. Sie ist bei allen 138 Ländern gescheitert, die 2012 mit überwältigender Mehrheit für den palästinensischen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen gestimmt haben (Deutschland enthielt sich der Stimme). Und sie scheitert bei einem Land nach dem anderen, das Palästina bilateral anerkennt. Mittlerweile haben 130 Länder weltweit diesen Schritt getan. Nachdem der israelische Premierminister den Wahlkampf mit einer Absage an die Zweistaatenlösung für sich entscheiden konnte, trägt nun die internationale Gemeinschaft die Verantwortung, das Zepter des Handelns in die Hand zu nehmen.
Doch mit welchen Argumenten fordern die Gegner einer Anerkennung Palästinas die Bundesrepublik auf, sich gegen den globalen Trend zu stellen?
Die Gegner der Anerkennung argumentieren, die Palästinenser verpassten keine Gelegenheit, eine Gelegenheit für den Frieden zu verpassen. Tatsache ist aber, dass der Stiefel der israelischen Besatzung nie, nicht ein einziges Mal, vom Rücken der Palästinenser gehoben wurde. Nie wurde ihnen eine wirkliche Chance eingeräumt, eine neue Realität zu errichten. Nicht in Oslo, nicht in der Westbank, nicht in Ostjerusalem und ganz sicher nicht im Gazastreifen. Das unerbittliche Ausmaß der israelischen Kontrolle über das gesamte besetzte Gebiet ist kein Gegenstand kontroverser historischer Debatten. Die Geschichte ist eindeutig.
Die Gegner der Anerkennung argumentieren, die palästinensische Politik fördere Extremismus und Gewalt. Die Tatsachen sind andere. Es grenzt an ein Wunder, dass die Palästinenser überhaupt noch in der Lage sind, auch nur die Vorstellung eines politischen Systems aufrechtzuerhalten. Denn Israel betreibt eine systematische gewaltsame Fragmentierung der palästinensischen geographischen Realität, eine Kampagne der gezielten Tötungen und eine fortgesetzte Politik der Inhaftierung der palästinensischen politischen Führung – inklusive eines Dutzend demokratisch gewählter Mitglieder der palästinensischen gesetzgebenden Versammlung. In Anbetracht dieser Tatsachen bitten die Palästinenser die internationale Gemeinschaft darum, das Völkerrecht und UN-Resolutionen aufrechtzuerhalten und bringen die Zweistaatenlösung zur Abstimmung auf das Podium der UN-Generalversammlung.
Mittlerweile ist klar, dass die Mehrheit der Welt einen palästinensischen Staat akzeptiert. Wenn nun internationale Schlüsselstaaten wie Deutschland sich davon verabschieden, darf sich niemand wundern, wenn die jüngere Generation von Palästinensern das Ringen um den eigenen Staat ein für alle Mal beendet. Doch gerade dann wären wir zurück in einem endlosen Kreislauf der Gewalt.
Keine Ausrede unter der Sonne kann auch nur einen einzigen weiteren Tag der militärischen Besatzung rechtfertigen.
Die Gegner der Anerkennung argumentieren, dass der palästinensische Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit mit den schrecklichen Entwicklungen im Irak, in Libyen, in Syrien und im Jemen zusammenhängt. Doch tatsächlich hat selbst das israelische Sicherheitsestablishment darauf hingewiesen, dass die regionalen Entwicklungen von den Forderungen der Palästinenser deutlich zu unterscheiden sind. Wenn überhaupt, dann ist es die palästinensische Bewegung, die im aktuellen Chaos der Region am meisten zu verlieren hat – von den seit 60 Jahren entwurzelten palästinensischen Flüchtlingen gar nicht zu sprechen, denen Israel die Rückkehr verweigert.
Die Gegner der Anerkennung argumentieren, die Palästinenser müssten erst unter Beweis stellen, dass sie ihre Freiheit tatsächlich verdienen. Doch Tatsache ist, dass es in einer Welt der globalen Gouvernance keine Lehrer und Schüler gibt. Es gibt nur das Völkerrecht, das für alle gilt. Keine Ausrede unter der Sonne kann auch nur einen einzigen weiteren Tag der militärischen Besatzung rechtfertigen. Und schon gar nicht eine Besatzung, die sich selbst nicht als solche begreift, sondern den Raub palästinensischen Landes durch die eigenen Bürger unterstützt.
Palästinenser haben den Staat Israel vor über 20 Jahren in den Osloverträgen schriftlich anerkannt. Im Gegenzug dazu hat Israel lediglich die palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als rechtmäßigen Vertreter des palästinensischen Volkes anerkannt. Dieser ungleichgewichtige Ausgangspunkt hat womöglich zum Fehlschlag des gesamten Osloprozesses beigetragen. Jetzt hat Deutschland die Gelegenheit, diesen historischen Fehler zu korrigieren, die Region vor zukünftiger Gewalt zu schützen und Israel vor sich selbst.
Der frühere britische Generalkonsul in Jerusalem, Sir Vincent Fean, hat die britische Debatte über die Anerkennung eines palästinensischen Staates vor einem guten Jahr im schottischen Sunday Herald kommentiert. Dort schrieb er: „Palästinenser haben das Recht auf Staatlichkeit, Frieden mit Gerechtigkeit und Hoffnung. Israelis haben dasselbe Recht, in Sicherheit zu leben mit guten Nachbarn und gemeinsamer Hoffnung. Wir können beiden Völkern gerecht werden. Unsere Regierung sollte den Staat Palästina neben Israel anerkennen, um die Zweistaatenlösung zu erhalten. Denn das Ausbleiben einer Konfliktlösung bleibt der beste Rekrutierungsagent für gewaltsamen Extremismus."
Der Bundestag muss sich entscheiden. Er kann in dieser Angelegenheit weiterhin in die Vergangenheit blicken und jede Verantwortung für eine führende Rolle im Ringen um den Frieden ignorieren. Oder er kann mutig nach vorne blicken, Verantwortung in der Debatte übernehmen und vielleicht auch erkennen, was er selbst der Geschichte schuldig ist. Wir hoffen, er wird die richtige Wahl treffen: Die Wahl für den Frieden.
Lesen Sie auch die Gegenposition von Efraim Inbar.
6 Leserbriefe
Eigenstaatlichkeit der Palästinenser anerkennen, als Etappe für eine folgende gemeinsame Zukunft, zum Beispiel in einer Konföderation mit Israel, so ist darin ein wichtiger Schritt zu sehen. Allemal wäre eine staatliche Anerkennung durch Deutschland gerade auch für die Bundesrepublik ein Befreiungsschlag aus politischer Bevormundung - aus bekanntem Grund - durch Israel. Was jedoch Sam Bahour übersieht, ist die mit einem "Nationalstaat Palästina" an der Seite eines tendenziell weiter als "Nationalstaats der Juden, Israel" bestehende Gefahr einer von nicht unerheblichen Kräften in Israel bereits jetzt angedeuteten Gefahr einer Abschiebung der jetzigen palästinensischen Bürger Israel, nicht ohne Grund von Israel als "Araber" apostrophiert. Das käme, bei deren jetzigem Bevölkerungsanteil von knapp über 20 Prozent in Israel einer erneuten ethnischen Säuberung, einer 2.Nakba gleich. Sam Bahour sollte sich einmal vorstellen, wie einfach es bei getrennten Nationalstaaten für Israel wäre, zu sagen: wir, Juden, haben unseren, Israel, Ihr, die Palästinenser habt nun, was Ihr immer gefordert habt, Euren. Dort seid Ihr zuhause! Hat Israel nicht schon immer den Plan verfolgt, Palästinenser los zu werden? Darum, dies ist die Meinung des sympatisierenden europäischen Beobachters, wäre eine gemeinsame Zukunft, mit gleichen Rechten und Pflichten im bereits jetzt umfassend unter israelische Kontrolle befindlichen Gebietes zwischen Mittelmeer und Jordan, eine zwar nicht konfliktfreie Zukunft für beide Volksgruppen, Juden und Palästinenser. Dies würde die ohnehin in vieler Hinsicht fragwürdige Nationalitätenfrage zu einer Bürgerrechts-Frage machen. Gleiche Bürgerrechte einzufordern wäre die Aufgabe der Palästinenser, durch breite gesellschaftliche Bewegungen weltweit, auch durch Politik des Westens zu unterstützen. Eine bereits jetzt existierende strukturelle und nur durch getrennte Rechssysteme vernebelte Apartheid hätte in einer "Offenen Gesellschaft" kaum eine lange Überlebenschance. Man mag einwenden, die real existierende Gesellschaft Israels werde dies nicht zulassen, ist wenig stichhaltig. Bei entsprechendem internationalen Druck und der Erkenntnis zahlreicher werdenen jüdischen Israeli, dass Gemeinsamkeit für beide, Juden und Palästinenser eine Win-Win Situation sein wird, kann die bestehende Blockade überwunden werden. Auch Israel könnte nur profitieren, denn seine Strahlkraft auf den gesamten Nahen und Mittleren Osten würde erheblich erhöht. Auch ohne militärische Dauerbedrohung!