Durch Präsident Recep Tayyip Erdoğans Drohung, den Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union platzen zu lassen, wird dieser Tage hitzig über die Einführung der Visafreiheit für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gestritten. Gekoppelt an die Umsetzung des im Jahr 2013 vereinbarten Rückübernahme-Abkommens für Drittstaatsangehörige, die illegal aus der Türkei in die EU einreisen, hatte die EU die Visafreiheit für die Türkei in Aussicht gestellt. Dafür wurde ein Fahrplan vereinbart mit einem Kriterienkatalog, den die Türkei erfüllen muss, damit sie die Visafreiheit erhält. Mit der Unterzeichnung des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals im März 2016 wurde der Türkei versprochen, die vereinbarten Visaverhandlungen zu beschleunigen, um ein Entgegenkommen von Seiten der EU zu signalisieren.

Eigentlich führt die Europäische Union seit Jahren Gespräche mit der Türkei über die Einführung der Visafreiheit. Noch bis zum Militärputsch von 1980 war die Einreise in die EU ohne Visum möglich. Ende 2013 begannen mit der „Roadmap towards the visa-free regime with Turkey“ offizielle Gespräche über die Aufhebung der Visapflicht. Diese sollten auch dazu dienen, die festgefahrenen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beleben und in der türkischen Bevölkerung wieder mehr Begeisterung für die Europäische Union zu wecken. Nachdem die AKP, die Partei von Präsident Erdoğan, jahrelang eine außenpolitische Öffnung zum Nahen Osten betrieben hatte und das Ziel der EU-Mitgliedschaft zunehmend in den Hintergrund rückte, hatten viele Menschen in der Türkei den Enthusiasmus für den EU-Beitritt verloren. Einige EU-Mitgliedstaaten standen aus innenpolitischen Überlegungen heraus dem EU-Beitritt der Türkei kritisch gegenüber und zeigten kein ernsthaftes Interesse an den Beitrittsverhandlungen. Sie steuerten ihren Teil dazu bei, dass der Glaube der Menschen in der Türkei an einen Beitritt zunehmend schwand. Ein Glaubwürdigkeitsproblem schaffte sich die EU zudem dadurch, dass für die überwiegende Zahl der Nichtmitgliedstaaten des Westbalkans und für die Republik Moldau die Visumpflicht bereits aufgehoben wurde, für die Türkei jedoch nicht.

Statt das Problem bei den Wurzeln zu packen, haben die EU-Staaten den Schutz der europäischen Außengrenzen externalisiert.

Wenn Vizekanzler Sigmar Gabriel nun davon spricht, dass sich die EU in der Visumsfrage nicht erpressen lassen dürfe und mancher Kommentar aus Bayern gar die Visafreiheit über den Tisch des türkischen Bazars verscherbelt werden sieht, dann stellt sich die Frage, warum Deutschland der vorgezogenen Abschaffung der Visapflicht als Gegenleistung für das Flüchtlingsabkommen mit der EU im Frühjahr überhaupt zugestimmt hat. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich durch den Flüchtlingsdeal in eine Abhängigkeit begeben, die ihnen nun zum Verhängnis wird. Statt das Problem bei den Wurzeln zu packen, also stärker die Fluchtursachen der Menschen in ihren Ländern zu bekämpfen und einen fairen Verteilmechanismus innerhalb der EU zu etablieren, haben sie den Schutz der europäischen Außengrenzen externalisiert. Auch mit dem Flüchtlingsabkommen werden die Flüchtlinge aus der Türkei in die EU kaum verteilt. Menschenrechtsorganisationen berichten seit Wochen von Verstößen gegen das Non-refoulement-Prinzip und über Menschenrechtsverletzungen an aus Griechenland zurückgeschickten Flüchtlingen. Es war von Anfang an ein Fehler, die Visafreiheit zu einem Teil dieses Deals zu machen. Statt für Mehrheiten in der Flüchtlingspolitik in Europa zu kämpfen, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den Weg des geringsten Widerstands gewählt. Das könnte nun ihre richtige „Wir-schaffen-das-Politik“ im Inneren gefährden und Europa in der Flüchtlingspolitik weiter spalten, sollte der Flüchtlingsdeal mit der Türkei platzen.

Kritiker der vorgezogenen Visafreiheit haben Recht, wenn sie die Erfüllung der 72 Kriterien anmahnen. Die Kriterien erfordern die Einhaltung grundlegender Rechtsstaatsprinzipien. Insbesondere die türkischen Anti-Terror-Gesetze, die schon vor dem Putschversuch dazu genutzt wurden, um gegen AKP-kritische Personen im Justizapparat, Journalisten und Oppositionelle vorzugehen, die mit der Bewegung von Fethullah Gülen nichts zu tun haben, stellen einen Streitpunkt in den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei dar. Hier tritt ein Kernproblem der maßgeblich durch die europäischen Mitgliedstaaten bestimmten Erweiterungspolitik der letzten Jahre zutage. In einer Phase, in der Erdoğan sich zunehmend von der Demokratie abwendet, müssen die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen Probleme bei der demokratischen Entwicklung der Türkei ansprechen. Gleichzeitig sind sie jedoch gezwungen, darauf zu achten, dass sie ihre Kritik an der Regierung Erdoğan nicht zu harsch vortragen, da er sonst – wie nun angedroht – den Flüchtlingsdeal platzen lässt.

Es ist geradezu tragisch, dass wir gegenwärtig in der Türkei eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe erleben.

Lange Zeit hat es die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel versäumt, ernsthafte Beitrittsgespräche mit der Türkei zu führen, als die AKP-Regierung den europäischen Reformkurs eingeschlagen und den Beitritt als eines der wichtigsten Ziele der Türkei festgelegt hatte. Es ist geradezu tragisch, dass wir gegenwärtig in der Türkei eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe erleben. Viele Beobachter scheinen vergessen zu haben, dass diese von der AKP-Regierung 2006 abgeschafft wurde, um eine der Hürden der Beitrittsgespräche zu nehmen. Merkel ist sicherlich nicht daran schuld, dass Erdoğan die Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe für seine Zwecke missbraucht. Sie muss sich jedoch vorwerfen lassen, dass sie mit einem Konzept der privilegierten Partnerschaft in Europa hausieren gegangen ist, als die Türkei ernsthaft an europäischen Reformen interessiert war. Statt demokratische Strukturen in der Türkei zu festigen und das Land näher an Europa zu binden, haben die stockenden Beitrittsverhandlungen neben einer zunehmenden Autokratisierung der türkischen Regierungspolitik dazu beigetragen, dass sich Grundprinzipien der Demokratie nicht festigen konnten.

Die europäischen Mitgliedstaaten müssen über die Beitrittsverhandlungen und den Visadialog mit der Türkei im Gespräch bleiben. Ein Abbruch der Beziehungen würde, wie der Journalist Can Dündar richtig beschreibt, das Ende der türkischen Demokraten und Liberalen bedeuten und sie anstelle von Erdoğan bestrafen. Das wird aufgrund der von Erdoğan laut geführten Debatte momentan häufig ignoriert. Statt mit Erdoğan in eine regelrecht persönliche Auseinandersetzung zu verfallen, sollte die Kanzlerin auf die Kräfte in der Türkei zugehen, die sich für Pluralität, Meinungsfreiheit und Demokratie unter schwierigsten Bedingungen einsetzen. Bisher hat sie diese auf ihren Reisen häufig vernachlässigt. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi macht der Bundesregierung vor, wie sie mit Erdoğan und seinem Umfeld umgehen könnte, wenn sich die Türkei weiter von den europäischen Werten entfernt: Die italienische Justiz ermittelt wegen Geldwäsche gegen Erdoğans Sohn Bilal. Statt die gesamte Bevölkerung in Sippenhaft für die Vergehen der Regierung zu nehmen, könnten jene Beamten und Vertreter der Regierung mit Einreiseverboten belegt werden, die gegen Oppositionelle und kritische Medien vorgehen. Momentan reisen diese mit einem sogenannten grünen Pass für Staatsbedienstete visafrei nach Europa.

Die Visafreiheit für die Bevölkerung in der Türkei muss unabhängig von der aktuellen Entwicklung gewährt werden, denn die EU-Beitrittsgespräche sind der richtige Rahmen, um demokratische Verfehlungen anzusprechen. Sie müssen daher dringend weitergeführt werden. Außerdem darf die Visafreiheit nicht als Anhängsel eines schlechten Deals dienen, bei dem Erdoğan Europa die Flüchtlinge vom Hals hält.

Austausch und persönliche Kontakte ermöglichen die Verbreitung europäischer Werte und das Kennenlernen demokratischer Teilhabe. Die Visafreiheit ist daher ein entscheidender Wegbereiter für Reformen und gesellschaftlichen Wandel. Durch einen engen Austausch mit Europa und dem Gewähren von Reisefreiheit werden diejenigen in der Türkei unterstützt, die ihr Land nicht dem Autoritarismus eines Erdoğan überlassen wollen, sondern für Demokratie und eine europäische Türkei kämpfen.

Erdoğans Reise im August nach Moskau dient der Verbesserung der türkisch-russischen Beziehungen und soll das Fundament für die künftige Zusammenarbeit legen. Eine dauerhafte Abwendung der Türkei von Europa und Hinwendung zu Russland können nicht im Interesse der EU sein.

Die Sorge vor massenhaften Asylgesuchen aus der Türkei ist unbegründet.

Die Sorge vor massenhaften Asylgesuchen aus der Türkei ist unbegründet. Auch wenn die Zahlen in diesem Jahr gestiegen sind, dienen sie doch eher der Rhetorik derer, die sich schon immer gegen die Visafreiheit für die Türkei ausgesprochen haben. Die gestiegenen Zahlen sind auf die Kämpfe zwischen dem Militär und der kurdischen Arbeiterpartei PKK in den überwiegend kurdisch besiedelten Städten im Südosten der Türkei zurückzuführen. Wer glaubt, dass Menschen massenhaft für Kurzaufenthalte legal bis zu 90 Tage visafrei in die EU einreisen, um im Anschluss nicht auszureisen und illegal in einer Dönerbude in Berlin oder Rom zu arbeiten, der verkennt, trotz aktueller Schwierigkeiten, die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahren und sollte derlei Stereotypen überprüfen.