In der aktuell zunehmend schwierigen Lage der Europäischen Union trägt die politische Entwicklung in Polen nach den Wahlen, sprich: die entschieden national-autoritäre Politik der Regierung in den Händen von „Recht und Gerechtigkeit“ („Prawo i Prawiedliwosc“– PiS), zur Sorge bei, die EU könnte sich in verstärkter Renationalisierung desintegrieren. Diese Sorge ist berechtigt. Die Ursachen dafür liegen allerdings nicht nur in Polen oder Ungarn, sondern vor allem in der seit Jahren wachsenden deutschen Dominanz, die kurzfristig national und unsolidarisch orientiert war.

Dies ist umso bedauerlicher, als die neue polnische Regierung für ihre davon unabhängigen, schon deutlich älteren Ressentiments gegenüber Deutschland (und Russland) auf empirische Anhaltspunkte deutscher Dominanz verweisen kann, die alle europäischen Nachbarn stärker zur Kenntnis genommen haben als die deutsche Öffentlichkeit. Die Wahlen hat PiS (bei einer Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent) aber nicht mit diesen Ressentiments gewonnen, sondern mit dem Versprechen, soziale Probleme der vorangegangenen, weitgehend neoliberalen Wirtschaftspolitik zu beheben.

Der Entscheider hinter allen Handlungen der PiS, Jarosław Kaczyński, verfolgt seine Politik freilich nicht aufgrund von jüngeren Erfahrungen. Seit der Wende wirft er der ersten polnischen Regierung unter den vormaligen Dissidenten Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek und anderen vor, mit ihrer Politik des „dicken Strichs“, mit der sie die Vergangenheit hinter sich lassen wollten, versäumt zu haben, Polen vom Kommunismus grundlegend zu „säubern“. Dahinter steht die schwierige Frage, wie man mit Regimewechseln umgehen soll: totaler personeller und institutioneller Neuanfang, der einen großen Teil der Gesellschaft außen vor lassen würde, oder Integration auch der alten Eliten, um zu einer Verständigung innerhalb des Landes zu kommen. Kaczyński wollte nach dem Ende des Kommunismus die auf Kompromiss angelegten Vereinbarungen des „Runden Tisches“, an dem er mitgewirkt hatte, brechen und seine Vision Polens verwirklichen, die an das nationalistische und katholisch-klerikale System General Piłsudskis anknüpft.

Die Ursachen für die Renationalisierung liegen nicht nur in Polen oder Ungarn, sondern in der wachsenden deutschen Dominanz.

Die Dissidenten der ersten Stunde hingegen kamen aus dem politisch liberalen und linken Feld, waren ehemalige Sozialisten oder Kommunisten, die nach dem polnischen Oktober in den 1950ern mit viel Mut und erheblichen Kosten (Adam Michnik saß mehrere Jahre im Gefängnis) gegen das kommunistische Nachkriegsregime aufgestanden waren. Sie hingen einer sozialliberalen Demokratie westlichen Typs mit marktwirtschaftlicher Ausrichtung an, die Teil der Europäischen Union werden sollte. Kaczyński zielte dagegen immer auf ein autoritäres System mit klarer Machtkonzentration und betont nationaler Unabhängigkeit.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die EU seit der Bankenkrise zunehmend vom Europäischen Rat, also den nationalen Exekutiven regiert worden ist, trotz der Aufwertung des Europäischen Parlaments durch den Vertrag von Lissabon. Dadurch ist ein erhebliches Defizit an Demokratie entstanden, verbunden mit einer Renationalisierung, weil die nationalen Regierungen vor allem auf ihre Wahlklientel schauen. Das hat auch das Gewicht Deutschlands in der EU deutlich gestärkt, gegen das sich PiS wendet.

Die Erfahrung, dass in den hochverschuldeten Ländern mit der Troika überdies eine demokratisch nicht legitimierte bürokratische Institution die Macht übernommen hat und die intransparent arbeitende Euro-Gruppe der Finanzminister faktisch die Geschicke der EU bestimmt, legt – nicht nur für Polen – die Sorge nahe, dass die Entwicklung der EU einer Linie der Entdemokratisierung folgt. Damit wird die politische Selbstbestimmung der Staaten auf EU-Ebene derart in Frage gestellt, dass dies ein zusätzliches Argument für eine Renationalisierung liefert, für die Rechten wie zuweilen auch die Linken.

Freilich hat die rabiate Unterwerfung des Verfassungsgerichts, der Staatsanwaltschaften und der öffentlichen Medien durch PiS, die liberalen Demokratieprinzipien widerspricht, sehr schnell die Opposition der polnischen Gesellschaft auf den Plan gerufen. Es steht zu erwarten, dass diese Proteste sich fortsetzen und verstärken. Kaczyński hat angekündigt, die Anhänger von PiS zu Gegenprotesten zu mobilisieren. Dies könnte zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Legitimität des neuen politischen Systems führen, das Kaczyński zweifellos anstrebt. Sollten sich seine Anhänger als öffentlich unterlegen zeigen, könnte es zu inneren Spaltungen in der PiS kommen, die ohnehin angesichts des autoritären Stiles zu erwarten sind und die auch die erste PiS-Regierung von innen ausgehöhlt haben.