Es ist eine Welt der Frauen, und keiner von ihnen geht es gut. Ihre Arbeitgeber sind begehrte Markenunternehmen, ihre Arbeitsplätze staubfreie Labore, ihre Produkte coole Gadgets. Die schwülen Reisfelder und kargen Bergalmen, denen sie entflohen sind, haben sie in einer anderen Galaxie zurückgelassen, um hier den Traum vom schnellen Geld zu leben. Die Rede ist von Asiens Elektronikindustrie-Arbeiterinnen, die die Welt mit schmucken Handys und ultradünnen Bildschirmen versorgen.

So massiv sich die Bilder des eingestürzten Rana Plaza-Gebäudes einer Bangladescher Textilnäherei mit über tausend toten Frauen in unser Gedächtnis gebrannt haben, so unbegründet wähnen wir die Arbeitswelt der Elektronikindustrie halbwegs in Ordnung. Etwas, das die 28-Jährige, nennen wir sie Nga, aus den Ha-Giang-Bergen im Norden Vietnams lustig findet. Was? Das wisse doch jeder, dass das die schlimmsten Arbeitsbedingungen überhaupt seien, sagt sie. Seit fünf Jahren mutet sie sich das zu. Heute, im ersten Produktionsquartal eines neuen Handymodells, ist sie wieder erst um 23 Uhr nach Hause gekommen. Nach 15 Stunden Schicht, ohne Hinsetzen, fast ohne Pausen. Normal, sagt sie. Wie fast alle Kolleginnen aus der koreanischen Zuliefererfirma im Süden Vietnams hat sie seit Stunden dicke, schmerzende Beine und Nierenschmerzen. Die 30-minütige Mittagspause kann sie meist noch schnell für einen Toilettengang nutzen, dann aber ist Schluss. Zu eng ist das Fließband der Headset-Montage getaktet. In der weiteren Fünf-Minuten-Pause wird sie es nicht mehr rechtzeitig quer über das Firmengelände, zur Toilette, aus dem Overall mit Kapuze und wieder zurück schaffen. Daher hat sie sich schon lange abgewöhnt, bei der Arbeit zu trinken. Blasenentzündungen haben sie deswegen alle hier. Die, die schon länger dabei sind, chronisch.

Nga und ihre Kolleginnen sprechen oft davon, dass man bald aufhören müsste. Fehlgeburten sind ein Dauerthema. Viele junge Frauen aus der Produktion beklagen, dass sie schon gar nicht mehr schwanger werden können. Sie vermuten, dass es die Chemikalien sind, die in Wasser gelöst entlang der Innenwände rieseln, um die Montagehalle staubfrei zu halten. Denn produziert wird hier nichts, Ngas Job ist das reine Zusammenbauen der aus China angelieferten Bauteile für ein neues Bluetooth-Headset. Informationen des Arbeitgebers gibt es natürlich nicht. Obwohl eine Privatfirma regelmäßig strenge Gesundheitschecks an den Arbeiterinnen vornimmt, werden die Testergebnisse nur an die Personalabteilung weitergeleitet. Neulich hat eine mitfühlende Krankenschwester Nga zugeraunt, dass sich ihre Blutwerte rapide verschlechtert hätten.

Gewerkschafter sind bestellt, Drohungen des Wachpersonals sind überzeugend. Notfalls tut es auch mal das neueste Smartphone als kleine Aufmerksamkeit.

„Wir wissen Bescheid,“ sagt Nga, und zeigt auf ihrem Smartphone You-Tube-Clips. In den unerlaubt geposteten Videos erzählen weinende Arbeiterinnen aus anderen Elektronikfirmen. Eine ist von Foxconn, dem taiwanesischen Apple-Zulieferer in China, wo sich erst letzten August wieder eine junge Schichtarbeiterin aus Verzweiflung in den Tod stürzte – die 14. Tote. Andere erzählen von ihrer Odyssee bei Samsung in Vietnam. Der koreanische Elektronikriese beschäftigt rund 86 Prozent seiner insgesamt 150 000 Beschäftigten allein in Vietnam. Wie die Arbeitsbedingungen dort für die 130 000 Arbeiter wirklich sind, lässt sich nicht genau ermitteln. Als Großinvestor unterhält der Konzern beste Kontakte zur Regierung und versteht es, sich allzu neugierige Arbeitsinspektoren der vietnamesischen Ministerien vom Hals zu halten. Gewerkschafter sind bestellt, Drohungen des Wachpersonals sind überzeugend. Notfalls tut es auch mal das neueste Smartphone als kleine Aufmerksamkeit.

Mehr ist allerdings bekannt über die Zuliefererindustrie in Vietnam. Interviews mit weniger behüteten Arbeiterinnen wie Nga belegen, dass hundert Überstunden im Monat im ersten Produktionsquartal eines neuen Handymodells normal sind. Im vierten Quartal, in dem die Produktion des Neumodells gezielt auf 25 Prozent des Anfangsvolumens heruntergedrosselt wird, gibt es schließlich kaum noch ausreichend Arbeit und Lohn. Bis der hektische Wahnsinn im nächsten Zyklus mit neuen Modellen wieder von vorne beginnt.

Warum das, was Nga und Millionen Arbeiterinnen in Asien täglich durchleiden, „business as usual“ ist, das erklärt ein Blick auf die Wertschöpfungsketten, den Markzugang und den grotesk verzerrten globalen Wettbewerb. „Es gibt nur ganz wenige Käufer in der elektronischen Industrie. Nämlich Samsung, Apple, LG und eine Handvoll anderer Großkonzerne, für die weltweit tausende von Zulieferern hochspezialisierte Teile produzieren,“ erklärt Dr. Do Quynh Chi, die kürzlich eine vergleichende Untersuchung in Vietnam zur Einhaltung von Arbeitsstandards in der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Schuh- und der Elektronikindustrie vorgelegt hat. Fazit sei, so Chi, dass vor allem die Zulieferer mit Haut und Haar dem Preis- und Produktivitätsdiktat der Megakäufer ausgeliefert sind. Und das ist bisweilen mörderisch.

Monopsonie, auch Nachfragemonopol genannt, ist es, was Chi verantwortlich macht für menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse. Monopsonie stellt den Markt schlichtweg auf den Kopf: Statt, dass wenige Produzenten viele Käufer finden, finden viele Produzenten nur wenige Käufer. Dabei fährt die Textil- und Bekleidungsindustrie, um deren Arbeiterinnen sich der globale Norden seit Rana Plaza verstärkt mit Gütesiegeln und Schutzinitiativen sorgt, im Vergleich sogar noch besser. Hier kann ein Zulieferer seine Näherinnen zeitgleich für KiK und Armani nähen lassen und hat somit insgesamt mehr Verhandlungsspielraum. Zudem helfen internationale gewerkschaftliche Initiativen wie der „Bangladesh Accord“ den Arbeitsbedingungen für Näherinnen auf die Sprünge.

Zunehmend schmeckt man auch im Süden der Welt den bitteren Nachgeschmack einer einst hoffnungsvollen Globalisierung, die ihren Versprechungen nicht gerecht wird.

Doch vereinzelte Initiativen sind nur Pflaster auf schwärende Zustände. Der Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen sowie klassisch neoliberale Freihandelsverträge mit asiatischen Billigproduktionsländern, so Chi, leisten einem grenzenlosen Wettbewerb in allen Exportbranchen Vorschub. Dabei führt das massive Machtgefälle zwischen Weltkonzernen an der Spitze der Wertschöpfungskette und ihren asiatischen Zulieferern am unteren Ende der Hackordnung unweigerlich zu immer niedrigeren Produktionskosten. Je mehr diese sinken müssen, desto mehr drücken sie in Ländern wie Kambodscha, Bangladesch oder Vietnam auf Profite, auf Löhne, auf Arbeitsplatzsicherheit und letztlich auf die Menschenrechte.

Statt des einst für sicher gehaltenen ökonomischen Aufstiegs durch Industrialisierung beobachtet Marc Anner von der Global Labour University in den Exportländern seit längerem ein sich beschleunigendes „Wettrennen nach unten“. Wenn am unteren Ende der Wertschöpfungskette der Preisdruck zu Lohndruck führe, so Anner, blieben am Ende Nga und ihre Kolleginnen arm, trotz täglich 15 Stunden harter Arbeit. Zunehmend schmeckt man auch im Süden der Welt den bitteren Nachgeschmack einer einst hoffnungsvollen Globalisierung, die ihren Versprechungen nicht gerecht wird.

In Entwicklungsländern mit investorenfreundlichen Gesetzen und überforderten Aufsichtsbehörden aber niedrigem Lohnniveau führt der Wettbewerb zu immer neuen Ansiedlungen und massiven Investitionen von Zuliefererbetrieben aus anderen, allen voran ostasiatischen Ländern. Insbesondere Elektronikgiganten und ihre emsigen Vasallen sind bestens im Geschäft. Nicht selten offerieren sie mit der Ansiedlung einer einzigen Produktlinie den südostasiatischen Gastregierungen mehrere hunderttausend Arbeitsplätze. Junge Frauen wie Nga, in ihren entlegenen heimischen Dörfern chancenlos, sehen darin ihr Ticket zum eigenen Ein- und Fortkommen.

Im Ringen mit dem Behemoth Welthandel ist ein einzelnes Land machtlos. Notwendige Hilfe könne nur der Druck von außen bieten, glauben Beobachter. Zum Beispiel höhere gesetzliche und ethische Standards auf den Absatzmärkten der USA und Europas, die unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen hergestellte Produkte schlicht verbieten. Nach dem durch Donald Trump verordneten Ende von Ex-Präsident Barack Obamas „Trans-Pazifischem Abkommen“ TPP, welches bei Verstößen mit Sanktionen drohen sollte, wäre nun eine europäische Handelsoffensive mit soliden Abkommen die richtige Antwort. Wie vormals das TPP sollten nun Europas Handelsabkommen durchsetzbare Sozial- und Umweltstandards beinhalten. Denn China, soviel scheint gewiss, hat künftig nicht vor, solche Klauseln in seine Handelsverträge mit den asiatischen Nachbarn aufzunehmen.

Globalisierung und Importe billiger Handys, ja. Aber globalisierte Werte, so mutet es an, möchte man in Brüssel beim besten Willen nicht exportieren.

„Ich träume“, sagt nachdenklich der Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Vietnam, Chang Hee Lee, „nach dem Ende von TPP von besseren europäischen bilateralen Handelsverträgen mit den Ländern Asiens. Insbesondere die Instrumente zur Umsetzung des Nachhaltigkeitskapitels, in dem es um die sozialen und ökologischen Standards in globalen Lieferketten geht, könnten verbessert werden. Brüssel sollte in der Lage sein, mehr für seine tatsächliche Umsetzung zu tun.“

Chang Hee Lee muss vermutlich noch länger träumen. In Brüssel begnügt sich die Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission weiterhin mit Absichtsbekundungen. Die EU plädiert zwar für bessere Arbeitsstandards und Umweltschutz in ihren Handelsbeziehungen, wirkt dabei jedoch, als boxe sie gerne weit unter ihrem Realgewicht. Zupacken ist nicht ihre Sache. So auch beim momentan mit Vietnam verhandelten EU-Freihandelsabkommen. In Brüssel möchte man künftige – und absehbare – Menschenquälereien bei Arbeit und Umwelt lieber dialogisch aus der Welt schaffen. Dialogisch klingt zurückhaltend und antikolonial, aufgeklärt und auf Augenhöhe. Dabei wäre den oftmals im Reformstau verhedderten Regierungen der Exportnationen oft schon mit einer klaren Ansage und einer ernst gemeinten Drohkulisse bei Normverletzungen bestens geholfen. Globalisierung und Importe billiger Handys, ja. Aber globalisierte Werte, so mutet es an, möchte man in Brüssel beim besten Willen nicht exportieren.