Es gab einmal einen russischen Präsidenten, der war genauso, wie ihn der Westen heute gern hätte: westlich, pro-europäisch, marktwirtschaftlich orientiert. Er suchte die Zusammenarbeit mit Europa und den USA, er führte sein Land in die Welthandelsorganisation. Gegen die „totalitäre stalinistische Ideologie“, die in seinem Land geherrscht hatte, stellte er die „Ideen der Demokratie und der Freiheit“. Und er gab selbstkritisch zu, dass Russland erst „am Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft“ stehe. Dieser Mann hieß Wladimir Putin.

Doch das war 2001, als Putin im Deutschen Bundestag redete. Damals schlug er auch vor, die Zusammenarbeit zwischen Russland und Europa zu stärken. Im Jahr 2010 brachte er dann eine Freihandelszone „von Lissabon bis Wladiwostok“ ins Spiel. Nichts davon wurde verwirklicht, mit der Folge, dass Putin jetzt auf die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft setzt und krude eurasische Ideen in Moskau hoch im Kurs stehen. Die Bilanz westlicher Außenpolitik ist verheerend: Sollte es ein Ziel gewesen sein, Russland auf Westkurs zu halten, dann wurde dieses Ziel komplett verfehlt. Es wäre also Zeit für etwas Selbstkritik, doch die findet leider nicht statt – im Gegenteil.

 

Sollte es ein Ziel gewesen sein, Russland auf Westkurs zu halten, dann wurde dieses Ziel komplett verfehlt.

Stattdessen werden alte Fehler wiederholt: Russische Interessen, russische Argumente werden systematisch ignoriert. Das ist gefährlich, denn es verschärft die Beziehungskrise, in der Russland und der Westen stecken. Und es erschwert die Lösung von Streitfragen, die es tatsächlich gibt – etwa die Annexion der Krim, die russische Einmischung in der Ost-Ukraine, den Syrien-Konflikt. Bei aller berechtigten Kritik an Putin – etwa an der Repression gegen Oppositionelle in Russland – man muss die Welt ja nicht noch schlechter machen, als sie ohnehin schon ist. Genau das aber passiert in Deutschland ständig, wenn es um Russland geht.

 

Ausgeschlagene Angebote

Exemplarisch zeigte sich das bei der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz. Dort hatte der russische Premier Dmitri Medwedew das Problem offen angesprochen: „Wir sind hinabgesunken in die Zeiten eines neuen Kalten Krieges.“ Medwedews Rede war ein dringender Appell, die Zusammenarbeit wieder zu verbessern. Die Reaktion? Totale Ablehnung. „Sicher, Medwedjew bot Russlands Kooperation an im Kampf gegen islamischen Terrorismus und versuchte, Moskau als Partner darzustellen“, schrieb WELT-Korrespondent Clemens Wergin, um nur einen typischen Kommentar zu zitieren. Aber: „Die Mischung aus bewussten Lügen und authentischen Differenzen im Blick auf die Welt stellt infrage, ob Russland wirklich ein Partner sein kann“, behauptet Wergin.

Und so wurde das gute Angebot, vereint gegen den islamistischen Terror vorzugehen, brüsk ausgeschlagen. Zur Verstärkung schob Wergin noch die Reaktion von Jan Techau nach, dem Direktor von Carnegie Europe in Brüssel. „Es ist ein Hochgeschwindigkeitsmix aus Anschuldigungen, Propaganda, verzerrter Realität und dem gelegentlichen Körnchen Wahrheit“, behauptete dieser über Medwedews Rede. Man fragt sich, warum der russische Premier überhaupt eingeladen wurde, wenn man ihn sowieso nicht ernstnehmen will.

 

Kritik unerwünscht

Diese Ignoranz hat Methode. Schon 2007 hatte Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Blick auf die geplante Raketenabwehr der NATO vor einem neuen Wettrüsten gewarnt: „Ich bin davon überzeugt, dass wir an einem Grenz-Zeitpunkt angelangt sind, an dem wir uns ernsthafte Gedanken über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit machen müssen.“ Sein Argument: Eine einzige Macht – gemeint waren die USA – sei mit der Führung der Welt schlichtweg überfordert, nötig sei deshalb eine multipolare We ltordnung. Interessante These – und zumindest diskussionswürdig.

Doch Putin stieß auf taube Ohren. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer nahm Putin übel, dass dieser es gewagt hatte, eine abweichende Meinung zu äußern: „Ich kann nicht verbergen, dass ich enttäuscht bin.“ Auf Putins Argumente ging niemand ein, die NATO-Osterweiterung ging weiter, die Hoop Scheffer mit dem bemerkenswerten Argument verteidigte, dass doch niemand etwas dagegen haben könne, „wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken“.

 

Hitler-Vergleiche statt Dialog

Vollends maßlos war die öffentliche Reaktion aber, als im Vorfeld der diesjährigen Sicherheitskonferenz mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow ein Waffenstillstand für Syrien vereinbart wurde. Nur wegen des Ortes musste das Abkommen für die konservativen Leitartikler natürlich ein neues „Münchner Abkommen“ sein. „Immerhin haben die westlichen Staatenlenker dann aber so ein Papierchen, mit dem sie glücklich strahlend herumwedeln können wie einst 1938 Chamberlain nach seiner Rückkehr aus München, wo er gemeinsam mit ‚Herrn Hitler’ den Frieden gesichert zu haben glaubte“, spottete WELT-Korrespondent Richard Herzinger.

Und BILD-Kommentator Julian Reichelt behauptete: „Was in München beschlossen wurde, ist nichts anderes als die vom Westen unterzeichnete Genehmigung für Russland, seinen Vernichtungskrieg gegen Bevölkerung und Infrastruktur in Syrien fortzusetzen.“ Klar, „Münchner Abkommen“, „Vernichtungskrieg“ – kleiner geht es nicht. Ginge es nach manchem Kommentator, würden wohl am besten alle diplomatischen Kontakte eingestellt. Der Waffenstillstand hat übrigens durchaus Wirkung gezeigt.

 

NATO-Erweiterung: Weiter wie gehabt

Leider blieb es nicht bei Kommentaren: Die Sicherheitskonferenz war kaum vorbei, da begann die NATO, als wäre nichts gewesen, Beitrittsgespräche mit Montenegro. Dabei ist der Beitritt des Landes nur der Auftakt zu einer neuen Erweiterungsrunde, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg längst klar gemacht hat. „Die NATO-Tür ist offen“, sagte Stoltenberg und nannte Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und auch Georgien. Das Bündnis soll also, ungeachtet der Folgen, weiter an die Grenzen Russlands heranrücken. Wenigstens sperrt sich Deutschland bislang gegen die Aufnahme Georgiens und der Ukraine.

 

Er sei ja kein Putinversteher, er verurteile die Annexion der Krim, aber, so Kinkel wörtlich: „Das konnte Putin nicht zulassen“.

Apropos Ukraine: Der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel erzählte kürzlich im schwäbischen Gomaringen, er und auch sein Vorgänger Hans-Dietrich Genscher seien „fassungslos“ gewesen, dass die Ukraine in eine Entscheidung zwischen Europa und Russland getrieben worden sei. Er sei ja kein Putinversteher, er verurteile die Annexion der Krim, aber, so Kinkel wörtlich: „Das konnte Putin nicht zulassen“. Doch das erfuhr man nicht aus den großen Zeitungen, sondern aus der Lokalpresse, dem „Schwäbischen Tagblatt“ vom 29. Februar 2016. Der Rat der Altvorderen gilt den neuen Kalten Kriegern nichts mehr.