Sie haben als Meinungsforscher viel zur Stimmung in EU-Ländern geforscht. Wie sehen Sie die Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa“?

Der anstehende Brexit hat die Bürger der EU-Staaten für die Vorzüge der Europäischen Union sensibilisiert. Nach einer langen Abfolge von Krisen ging es zuletzt auch aufwärts mit der EU. Das hat zu einer deutlich verbesserten Grundstimmung in den Partnerländern geführt. Insbesondere die Deutschen mit ihrer exportorientierten Wirtschaft verbinden die EU wieder weit eher mit Chancen als mit Risiken und sind bereit, für eine verstärkte Integration Europas auch einen finanziellen Beitrag zu leisten. Insofern kommen die Initiativen von Emmanuel Macron und jetzt von Martin Schulz zur Stärkung der EU prinzipiell zum richtigen Zeitpunkt, man sollte sich aber vor einer Überforderung der Integrationsbereitschaft der Bürger hüten. Zudem schwingt in dem Konzept „Vereinigte Staaten von Europa“ ein Exklusionselement mit – wer nicht mitgeht, bleibt draußen. Das will meines Erachtens nicht so ganz zu dem Integrationsgedanken passen.

Die Deutschen sollten den Franzosen die Führungsrolle nicht streitig machen.

Beobachter des europäischen Integrationsprozesses haben immer wieder den Mangel an Visionen herausgestellt. Ist das ein Weg, um die Menschen für Europa zu begeistern?

Der europäische Integrationsprozess war immer dann am erfolgreichsten, wenn er auch mit positiven Zielen jenseits der ökonomischen Rationalität verbunden wurde: als friedensstiftende Kraft nach dem Zweiten Weltkrieg oder als Chance, die im Kalten Krieg gewachsene Kluft zwischen Ost und West zu überwinden. Das schafft auch emotionale Verbundenheit, Sicherheit und eine gemeinsame Identität. In einer zunehmend als unsicher empfundenen Welt könnte ein starkes und vereinigtes Europa als Vorbild dienen für eine friedliche und für alle Beteiligten vorteilhafte Kooperation. Dafür wäre es aber gut, diese europäische Wirklichkeit für breite Bevölkerungsschichten lebendig werden zu lassen – ein Erasmusprogramm für nicht-akademische Bevölkerungsschichten wäre wünschenswert.

Was sind die Erwartungen der Bürger an Europa? Sind sie für mehr europäische Integration bereit?

Die EU-Bürger wollen ein starkes Europa, das in einer zunehmend unsicheren Welt seinen positiven Einfluss geltend machen kann. Die zunehmende Globalisierung führt aber in weiten Bevölkerungsteilen auch zu Verunsicherung und zu einem Bedürfnis nach Rückhalt in der nationalen Identität. Wer eine Stärkung der europäischen Integration will, tut gut daran, mit Bedacht vorzugehen, um keine Gegenreaktion zu provozieren. In einigen Bereichen befürworten Mehrheiten in so gut wie allen Partnerländern eine Vertiefung der Zusammenarbeit, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Umweltpolitik oder bei der Besteuerung globaler Unternehmen. In anderen Bereichen, wie bei der Flüchtlingspolitik, gehen die Ansichten weit auseinander. In den west- und nordeuropäischen Ländern fordern klare Mehrheiten eine Verlagerung der Zuständigkeit auf die europäische Ebene, in den meisten osteuropäischen Ländern wird in der Flüchtlingspolitik für die Beibehaltung der nationalen Zuständigkeit plädiert. Und in der Haushalts- und in der Sozialpolitik trifft jegliche Einschränkung nationaler Souveränitätsrechte länderübergreifend auf erhebliche Vorbehalte.

Wie wird die Rolle Deutschlands in Europa gesehen: Sollte Deutschland vorangehen oder dem französischen Präsidenten das Feld überlassen?

Die Deutschen sollten den Franzosen die Führungsrolle nicht streitig machen, da einige Partnerländer der Wirtschaftsmacht Deutschland zunehmend reserviert gegenüberstehen. Deutschland sollte aber an der Spitze der Unterstützer von Macrons Initiativen stehen. Denn ein starkes Europa, ein stärker integriertes Europa, braucht eine starke Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland.

Die Fragen stellten Joanna Itzek und Hannes Alpen.