Seit Beginn der Euro-Krise vor sechs Jahren wird die deutsche Regierung nicht müde zu betonen, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Probleme selbst lösen müssen. In den Augen vieler Deutscher war die Euro-Krise eine Schuldenkrise, die Mitgliedstaaten wie Griechenland durch eine verantwortungslose Finanzpolitik verursacht haben. Zwar gab es auch Stimmen, die sagten, die Krise könne nur durch die Vergemeinschaftung von Schulden in der Euro-Zone gelöst werden. Doch die Deutschen befürchteten, das würde den Druck auf die Krisenländer nehmen, die notwendigen Strukturreformen durchzuführen.

Doch seit sich im letzten Sommer abzeichnete, dass im Jahr 2015 eine Million Menschen in Deutschland Asyl beantragen würden, hat sich der Ton geändert. Statt die Eigenverantwortung hervorzuheben, reden deutsche Politikerinnen und hohe Beamte nun plötzlich von der gemeinsamen Verantwortung für die Lösung europäischer Probleme. Die Flüchtlingskrise, über welche die europäischen Staatschefs am 18. und 19. Februar in Brüssel berieten, sei ein europäisches und nicht, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán es ausdrückte, ein „deutsches Problem“. Anders ausgedrückt: Im Kontext der Flüchtlingskrise sagen die Deutschen nun genau das, was andere seit langem über die Euro-Krise sagen. In der Euro-Krise wollten die verschuldeten Länder im Süden Europas, dass Deutschland „Solidarität“ zeige. Nun jedoch, da hunderttausende Flüchtlinge den Weg nach Deutschland suchen, sind es die Deutschen, die die „Solidarität“ anderer Mitgliedstaaten einfordern,  dergestalt, dass sie einen „gerechten Anteil“ an Asylsuchenden aufnehmen.

Es steht zu befürchten, dass die Deutschen sich irgendwann ausgenutzt fühlen und sich gegen die EU wenden.

Die neue Dynamik hätte eine Chance für Europa sein können. Sie hätte den Deutschen vermitteln können, wie es ist, wenn man auf die Hilfe seiner europäischen Partner angewiesen ist. Sie hätte mehr Mitgefühl für die wirtschaftliche Not von Ländern wie Griechenland wecken und einen Politikwechsel herbeiführen können, der diesen Ländern geholfen hätte, durch Wachstum aus der Krise zu kommen – und wenn auch nur zu dem Zweck, sich für die Bewältigung der Flüchtlingskrise ihre Hilfe zu sichern. Doch da andere EU-Mitgliedstaaten Merkels Pläne ablehnen, gelangen die Deutschen immer mehr zu der Überzeugung, dass sie in der Euro-Krise Ländern wie Griechenland gegenüber solidarisch waren, nun aber in der Flüchtlingskrise im Gegenzug keinerlei Solidarität erfahren – ja, in Deutschland spricht man bereits von einer „Entsolidarisierung“. Es steht zu befürchten, dass die Deutschen sich irgendwann ausgenutzt fühlen und sich gegen die EU wenden.

Die Flüchtlingskrise und die Euro-Krise sind untrennbar miteinander verbunden. Seit Beginn der Euro-Krise besteht die EU aus einem boomenden Kern – angeführt von Deutschland – und einer verarmten Peripherie. Dass so viele hunderttausende Flüchtlinge aus kriegsgeschundenen Regionen in aller Welt – vor allem Syrien –, die sich nach Europa aufmachen, nach Deutschland wollen, veranschaulicht die Realität des neuen Europas.

Die Flüchtlingskrise und die Euro-Krise sind untrennbar miteinander verbunden.

Dass EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland des Zustroms der Flüchtlinge in den letzten Jahren nicht Herr wurden – und nicht verhindern konnten, dass diese nach Nordwesten in Länder wie Deutschland und Schweden weiterreisten –, liegt unter anderem auch daran, dass Griechenland von den einschneidenden und anhaltenden Sparmaßnahmen geschwächt ist, die Deutschland und andere nordeuropäische Staaten ihm im Zuge ihres harten finanzpolitischen Kurses seit 2010 auferlegt haben. In der erregten Diskussion, die im Sommer um die griechischen Schulden geführt wurde, wollten viele Deutsche gutem Geld kein schlechtes hinterherwerfen, denn für sie war Griechenland ein gescheiterter Staat.

Die Deutschen verfolgen nun den Ansatz, andere EU-Mitgliedstaaten zur Aufnahme eines gerechten Anteils der Asylsuchenden zu bewegen, ohne dass sich das auf die Euro-Krise auswirkt. In Berlin fürchtet man insbesondere, dass für die Lösung der Flüchtlingskrise die Haushaltsregeln der EU gelockert werden könnten, für die man sich so stark gemacht hat. So warnt der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, die Flüchtlingskrise dürfe in der Auseinandersetzung um die roten Zahlen in einzelnen Mitgliedstaaten nicht instrumentalisiert werden. Die Deutschen verfolgen somit die Strategie, Verknüpfungen zwischen der Euro-Krise und der Flüchtlingskrise zu verhindern.

Falls es den Euro- und Schengen-Ländern nicht gelingt, eine  solidarische Union zu schaffen, bedeutet das nicht automatisch das Ende der EU.

Doch beide Krisen lassen sich nicht getrennt voneinander lösen. Europa braucht eine Solidaritätsunion, über die man in Deutschland bereits spricht. In der Praxis heißt das, dass die EU-Mitgliedstaaten, die zur Euro-Zone und zum Schengen-Raum gehören – faktisch bereits eine Art „Kern-“Europa – zu einem gemeinsamen Verständnis ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten gelangen müssen. Sie müssen ein Verhandlungspaket schnüren, in dem sie festlegen, wie weit sie bei der Vergemeinschaftung von Schulden und der Verteilung von Flüchtlingen gehen wollen.

Falls es den Euro- und Schengen-Ländern nicht gelingt, eine solche Solidaritätsunion zu schaffen, bedeutet das aber nicht automatisch das Ende der EU, wie viele in Deutschland zu befürchten scheinen. Eine Aufhebung des Schengen-Abkommens bedeutet noch nicht einmal das Ende des Prinzips der Freizügigkeit in der EU, die auch für Nicht-Schengen-Länder wie Großbritannien gilt. Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen um Deutschland herum würde natürlich für die deutsche Wirtschaft Kosten verursachen  (wobei auch diese Kosten gerade übertrieben werden) und wäre für Einzelpersonen mühsam. Aber ähnlich wie die nach dem 11. September 2001 eingeführten Sicherheitskontrollen, die ähnliche Folgen hatten, ist sie womöglich notwendig. Hier besteht eine Parallele zu Angela Merkels kategorischer Aussage, dass, wenn der Euro scheitert, auch die EU scheitert. Wir sollten in EU-Angelegenheiten nicht immer in Schwarz-Weiß-Kategorien denken.