Die russische Revolution ist für den Kreml ein heikles Thema, weil sie nicht wie zu Sowjetzeiten als Gründungsmythos einer neuen, gerechteren Gesellschaft verklärt werden kann, sondern in erster Linie als Zerstörung eines funktionierenden imperialen Staates erscheint. Aus diesem Grund hat man die "Große Sozialistische Oktoberrevolution", wie sie vor 1991 offiziell hieß, umbenannt und in einen breiteren Kontext gestellt. Die staatliche Geschichtspolitik spricht nun von der "Großen Russländischen Revolution", die eine "Februar-" und eine "Oktoberetappe" aufweist und sich auch auf den Bürgerkrieg erstreckt. Gleichzeitig wird die Revolutionsgeschichte durch ein Konzept aus dem frühen 17. Jahrhundert überblendet, nämlich durch die "Zeit der Wirren" vor der Thronbesteigung durch den ersten Zar der Romanow-Dynastie. Auch heute fürchtet der Kreml sich vor einer Farbrevolution nach georgischem (2003), ukrainischem (2004) oder kirgisischem (2005) Vorbild. Die Polittechnologen des Kreml werden nicht müde, die "Alternativlosigkeit" der Regierung Putin zu predigen und im Fall eines Systemwechsels vor dem Abgleiten in ein Chaos zu warnen.

Beide Revolutionen des Jahres 1917 erscheinen als Störfaktor in einem übergeordneten Geschehen, dem Fortdauern der russischen Staatlichkeit in zwei imperialen Gebilden, dem Zarenreich und der Sowjetunion. Den besonderen Zorn des russischen Präsidenten Wladimir Putin zieht sich der Revolutionär Wladimir Lenin allerdings nicht so sehr durch sein kommunistisches Gesellschaftsprojekt zu, sondern durch die Einführung des Sowjetföderalismus. Lenin habe die Grenzen zwischen Russland und der Ukraine höchst willkürlich gezogen und trage damit letztlich die Verantwortung für den blutigen Konflikt im Donbass. In der offiziellen Geschichtspolitik und der patriotischen Populärkultur rücken deshalb heute andere Helden im Vordergrund: Fürst Wladimir, Dschingis Khan und Stalin.

Lenin habe die Grenzen zwischen Russland und der Ukraine höchst willkürlich gezogen und trage damit letztlich die Verantwortung für den blutigen Konflikt im Donbass.

Am 4. November 2016 wurde im Zentrum Moskaus feierlich eine monumentale Statue für den Fürsten Wladimir eingeweiht. Diese historische Figur aus dem 10. Jahrhundert steht der neuen patriotischen Staatsideologie besonders nahe. Zum einen symbolisiert Fürst Wladimir die ungebrochene Tradition der russischen Staatlichkeit, die auch die Kiewer Rus als erstes ostslavisches Staatsgebilde für sich reklamiert. Zum anderen steht Fürst Wladimir in der offiziellen Geschichtsschriebung für die Taufe Russlands und bietet so ein prominentes Vorbild für die heutige Annäherung von Staat, Kirche und Gesellschaft. Auch in der neueren russischen Kinoproduktion ist Wladimir prominent vertreten: 2016 gelangte der Monumentalfilm Viking auf die russischen Kinoleinwände, der die Christianisierung in die düstere Ästhetik von Game of Thrones übersetzt. Bereits 2006 trat Fürst Wladimir als Titelheld des ersten abendfüllenden postsowjetischen Zeichentrickfilms auf.

In der russischen Kultur ist das Mongolenreich von Dschingis Khan seit jeher ein Gegenstand historiosophischer Diskussionen. Die drei Jahrhunderte währende Fremdherrschaft der Mongolen im Frühmittelalter wurde vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu gedeutet. Die Eurasier bewerteten die mongolische Epoche der russischen Geschichte positiv, weil sie Russland befähige, zum Mittler zwischen der europäischen und asiatischen Kultur zu werden. Solche Argumentationsfiguren sind im postsowjetischen Russland auf große Resonanz gestoßen, am prominentesten beim rechts-nationalistischen Philosophen Alexander Dugin. Aber auch die offizielle Politik konzentriert sich auf Eurasien. Seit dem 1. Januar 2015 existiert eine Eurasische Wirtschaftsunion, an der sich neben der dominierenden Russischen Föderation die Länder Armenien, Kasachstan, Kirgisistan und Belarus beteiligen. Das russische Kino ist in den letzten zehn Jahren von einem regelrechten Mongolensturm heimgesucht worden. Die Filmepen Der Mongole (2007), Das Geheimnis des Dschingis Chan (2009) und Die Horde (2012) zeichnen ein anerkennendes Bild des mongolischen Willens zum Macht, der sich allerdings mit russischer Spiritualität vereinigen muss.

Sogar Präsident Putin fühlte sich in seinem langen Interview mit dem amerikanischen Regisseur Oliver Stone bemüßigt, "übermäßige Kritik" an Stalin abzuwehren.

Schließlich zeigt sich in den letzten Jahren eine schleichende Rehabilitierung Stalins, die vor allem von Exponenten der kremltreuen Kommunistischen Partei vorangetrieben wird. Am wichtigsten Feiertag in der russischen Geschichtspolitik, dem Tag des Sieges über Hitlerdeutschland am 9. Mai, werden bei Umzügen seit 2015 große Porträts des Generalissimus mitgeführt. Sogar Präsident Putin fühlte sich in seinem langen Interview mit dem amerikanischen Regisseur Oliver Stone bemüßigt, "übermäßige Kritik" an Stalin abzuwehren. Er verglich Stalin mit anderen Diktatoren wie Cromwell oder Napoleon und verwies auf den hohen Status dieser Figuren in den jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen. Überhaupt fügt sich Stalin besser als Lenin in den aktuellen neoimperialen Diskurs des Kremls ein. Er steht für die kompromisslose Konsolidierung der Macht, eine ideologische Schließung der Gesellschaft und die Annäherung an die orthodoxe Kirche.

Was können wir im Jubiläumsjahr der Revolution also erwarten?

Reichlich spät, nämlich am 19. Dezember 2016, beauftragte Präsident Putin die staatsnahe russisch-historische Gesellschaft und das Kulturministerium mit der Ausrichtung der Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution. Das Komitee für das Revolutionsjubiläum umfasst 63 Personen des öffentlichen Lebens mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung. Die weitaus größte Gruppe stellen patriotische Hardliner wie der Filmregisseur Nikita Michalkow, die orthodox beseelte Historikerin Natalja Narotschnizkaja, Putins orthodoxer Beichtvater Tichon Schewkunow, der erzkonservative Direktor der Stiftung "Russische Welt" Wjatscheslaw Nikonow, der kremlnahe Exilaristokrat Dmitri Lobanow-Rostowski, der patriotische Schriftsteller Sergej Schargunow, der Chefeinpeitscher der vereinten Nachrichtenagenturen Dmitri Kisseljow und die Leiterin des staatlichen Propagandasenders RT Margarita Simonjan. Daneben finden sich aber auch angesehene Wissenschaftler wie der Präsident der Geisteswissenschaftlichen Universität Jefim Pivovar oder der Rektor der Diplomatenschmiede MGIMO Anatoli Torkunow. Schließlich gibt es einige wenige oppositionelle Intellektuelle, so etwa den aufmüpfigen Chefredakteur der Radiostation "Echo Moskaus" Alexej Wenediktow.

Es ist bezeichnend, dass der zentrale Held des sowjetischen Revolutionsgedenkens Wladimir Lenin nur gerade in drei Projekten auftaucht.

In kürzester Zeit erstellte das Organisationskomitee eine Liste von 118 Veranstaltungen. Dabei handelt es sich vor allem um Ausstellungen, Konferenzen, Publikationen und Filme. Den Höhepunkt markiert am 25. Oktober 2017 eine Multimediaprojektion "Der Sturm des Winterpalais" am historischen Ort des Geschehens in Petersburg. Am 4. November 2017 wird in Kertsch auf der Krim ein Versöhnungsdenkmal für die Parteien des Bürgerkriegs aufgestellt. Es versteht sich von selbst, dass diese Versöhnung sich symbolisch ebenfalls auf die gewaltsame Annexion der Halbinsel beziehen soll.

Es ist bezeichnend, dass der zentrale Held des sowjetischen Revolutionsgedenkens Wladimir Lenin nur gerade in drei Projekten auftaucht. Und auch hier muss er sich den Ruhm mit anderen historischen Persönlichkeiten teilen. So produziert das Fernsehen eine vierteilige Serie mit dem Titel "Lenin und Kerenski 1917", in dem als Gegenfigur zum Revolutionsführer der letzte Ministerpräsident der Provisorischen Regierung auftritt. Ein Dokumentarfilm beschäftigt sich mit dem Schicksal des Generals Brussilow, der sowohl dem Zaren als auch der Sowjetmacht treu diente. Damit erfüllen diese Projekte die Vorgabe des linientreuen Kulturministers Wladimir Medinski, dass es beim Revolutionsjubiläum nicht um einen Sieg der Roten oder Weißen gehe, sondern dass der Einheit der russischen Geschichte gedacht werden müsse.