Sie kochen – vor Wut. 16 000 Menschen demonstrierten im April 2016 in Duisburg für den Erhalt der Stahlindustrie. Die Stahlkocher fürchten um ihre Jobs, weil China Stahl zu Dumpingpreisen produziert und die europäischen Märkte überschwemmt. Der subventionierte chinesische Stahl führt zu einem Überangebot und verdrängt unsere Produkte. Die Stahlarbeiter gehen auf die Straße, und sogar die Bosse sind an ihrer Seite. Sie demonstrieren gemeinsam gegen unfaire Wettbewerbsbedingungen. Duisburg zeigt: Eine globale Wirtschaft ist nicht nur Sonnenschein. Sie produziert auch Verlierer, auch in Deutschland.

 

Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren bei beidem – bei der Industriemesse und bei der Demo.

Sie buhen. 35 000 Menschen gingen zwei Wochen später in Hannover gegen TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) auf die Straße. Merkel und Obama eröffneten dort die wichtigste Industriemesse und sprachen sich für eine gemeinsame Freihandelszone aus. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren bei beidem – bei der Industriemesse und bei der Demo. Denn sie wollen eine gerechte, globale Wirtschaft. Dazu braucht man ein Höchstmaß an Transparenz, Standards, Werten und einen gemeinsamen Austausch.

Transparenz, Standards, Werte – die Erkenntnisse durch die TTIP-Leaks über die Verhandlungsposition der US-Amerikaner dienen nicht dazu, die Skepsis der Menschen gegenüber TTIP zu verringern. Ganz im Gegenteil. Wenn die US-Seite stur bleibt und die Kernanforderungen an ein gutes Handelsabkommen nicht akzeptiert, dann wird es TTIP nicht geben. Die SPD stellt sich gegen Abstriche beim Verbraucher-, Lebensmittel-, Umwelt- oder Arbeitsrecht – und erst recht bei unseren demokratischen Abläufen. Schiedsgerichte nach dem alten Muster sind ein No-Go für TTIP und alle künftigen Abkommen. Unser Beschluss vom letzten Bundesparteitag hat das klargestellt.

Klar, alle reden derzeit über TTIP. Wie kann aber zukünftig ein Handelsabkommen aussehen, das nicht nur unsere Linien einhält, sondern Instrument der sozialen Gerechtigkeit wird? Die europäische Sozialdemokratie muss neue Ideen entwickeln und gemeinsam durchsetzen. Kurzfristig zeigt das Sigmar Gabriels wichtige europäische Initiative für einen neuen Handelsgerichtshof. Was wir langfristig – und losgelöst von den Verhandlungen mit den USA – brauchen, ist eine Debatte über eine wertegeleitete Handelspolitik und die Entwicklung neuer Mechanismen.

 

Handel nur mit klaren Leitlinien

Die derzeitige Handelspolitik polarisiert unsere Gesellschaft. Konservative propagieren ungezügelte Märkte. Für die Linken ist klar: Die Konzerne sind an allem Schuld. Doch damit machen sie es sich zu einfach. Arbeit, Wirtschaft und Umwelt wird nicht zusammen gedacht. Die Rechtspopulisten schreien dagegen nach neuen Mauern und Abschottung. Das ist die falsche Antwort. Sie würden das Ende der offenen, modernen Gesellschaft und des Wohlstands bedeuten, den wir in Europa genießen.

Wir als SPD haben rote Linien formuliert, doch wir müssen stärker in die Offensive gehen. Denn Handelspolitik produziert Gewinner. Sehr viele Menschen in Deutschland und Europa erleben wachsenden Wohlstand für sich und ihre Familien. Sie haben beruflichen Erfolg, treffen internationale Kollegen und erleben fremde Länder. Wir wissen: Handel kann Wachstum und Arbeit schaffen, sogar durchschnittlich höhere Löhne und mehr Sicherheit.

 

Vielen Menschen macht eine globalisierte Welt Angst.

Aber: Handelspolitik produziert auch Verlierer. Vielen Menschen macht eine globalisierte Welt Angst. Sie fürchten, ihre Arbeit zu verlieren, dem Druck nicht standzuhalten, in einer „smart factory“ überflüssig zu werden. Sie wären die klaren Verlierer, wenn Umwelt- und Sozialstandards vor die Hunde gehen würden. Handelspolitik bedeutet nicht automatisch mehr Wohlstand für alle. Ein Wachstum von zwei Prozent bedeutet selten eine Lohnsteigerung von zwei Prozent oder gute Umweltbedingungen. Ob alle vom Handel profitieren, hängt von mehr ab. Genau dafür müssen wir aber kämpfen.

Unser Anspruch ist es, mit Handelspolitik die soziale Spaltung zu verringern. Wir wollen mehr Menschen zu Gewinnern machen. Sie gehen nicht ohne Grund auf die Straße. Ihr Protest ist auch Ausdruck für die immer größere soziale Ungleichheit, eine sich vertiefende Spaltung in Arm und Reich und die Sorge vor der Zukunft. Wir müssen einen zukunftsgewandten Entwurf für eine Handelspolitik entwickeln, die der Globalisierung Regeln gibt und zu einem Mehr an Gerechtigkeit führt. Politik für gerechten Handel ist wahrlich ein dickes zu bohrendes Brett, aber notwendiger denn je.

 

Race to the top

Oft wird bei Handelsabkommen eine Harmonisierungsspirale von Standards nach unten heraufbeschworen. Die sogenannten Handelshemmnisse – ein irreführendes Wort – sind oft keine Zölle mehr, sondern Regeln und unterschiedliche Standards. Es sind Regeln, die für Sicherheit sorgen. Es sind wertvolle Errungenschaften, die die Menschen und die Natur schützen. Wenn wir die soziale Ungleichheit angehen wollen, stellt sich die Frage: Können wir nicht einen anderen Ansatz verfolgen – eine Harmonisierungsspirale nach oben? „Race to the top“ statt „Race to the bottom“. Wir brauchen Mechanismen, die zu höheren Standards führen.

Wir hätten eine Reihe von guten Ideen für progressive Abkommen. Zum Beispiel könnten wir gemeinsam alle fünf Jahre bessere Abgaswerte für Autos festlegen. Wir könnten zusammen einen strengeren Gesundheitsschutz verabreden. Denkbar wäre auch, Hand in Hand sich für eine jährliche Evaluation des Abkommens durch Gewerkschaften einzusetzen. Das ist die politische Gestaltung der globalen Wirtschaft. Sicherlich ist dies momentan noch eher Wunsch als Wirklichkeit. Bereits jetzt sind europäische Abstimmungsprozesse nervenraubend und langwierig. Dennoch: Die Zeit für solche Ansätze ist reif.

 

Egoismen versus Entwicklung

Dabei sollten wir nicht nur unsere eigene Perspektive einnehmen. Wir müssen uns fragen: Schaden wir anderen durch unseren Handel? Unsere massive Unterstützung der europäischen Landwirtschaft ist schön für Großbauern in Europa, behindert aber die Entwicklung vieler afrikanischer Staaten. Diese haben nur eine Chance auf wirtschaftlichen Aufschwung, wenn sie ihre Mauern hochziehen. Welche nationalen oder europäischen Egoismen kann sich eine sozialdemokratische Handelspolitik erlauben?

Welche nationalen oder europäischen Egoismen kann sich eine sozialdemokratische Handelspolitik erlauben?

Dass auch wir die Leidtragenden sein können, zeigt das Beispiel China und Stahlindustrie. China will sich weiterentwickeln. Sie subventionieren ihren Stahl jedoch so immens, dass Dumpingpreise unter den Herstellungskosten liegen. Ein nationaler Egoismus, der sich gegen andere Länder richtet – in dem Fall auch gegen uns. In der Handelspolitik muss daher stärker zwischen Entwicklung und Egoismus abgewogen werden.

 

Rechte und eben auch Pflichten

Sozialdemokratische Handelspolitik heißt auch, dass wir Pflichten einführen müssen für Unternehmen. Transnationale Unternehmen wollen ihre Investitionen durch Schiedsgerichte absichern. Private Schiedsgerichte lehnen wir ab. Dank Sigmars Gabriels Initiative haben wir eine Alternative mit einem öffentlichen, mit unabhängigen Richtern besetzten Handelsgerichtshof. Was ist jedoch mit Strafen gegenüber Unternehmen? Menschenrechte, Nachhaltigkeit, starke Betriebsräte – alles schöne Schlagworte. Sie engagieren uns nicht nur bei Handelsabkommen, sondern beispielsweise auch beim Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“. Doch wir können Forderungen nicht umfassend durchsetzen. Wir brauchen daher rechtlich bindende Mechanismen. Hier müssen wir an neuen Ansätzen arbeiten.

 

Kohärenz – Handel kann das Instrument sein

Die Handelspolitik wird noch immer aus der wirtschaftlichen Perspektive betrachtet. Dabei ist sozialdemokratische Handelspolitik eine Frage der internationalen Kohärenz. Welche Ziele verfolgen wir in der Entwicklungspolitik? Welche Ziele verfolgen wir bei der Stärkung der internationalen Gewerkschaftsbewegung? Welche Ziele sehen wir in der Verbindung von Handel und Außen- und Sicherheitspolitik? Wir beschließen sehr gute Abkommen wie das Klimaabkommen von Paris. Wir unterstützen die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Wir treten für weltweite Lieferketten ein, in denen Menschenrechte eine stärkere Rolle spielen sollen. Das alles muss stärker Teil einer internationalen Gerechtigkeitsstrategie in der Handelspolitik werden. Dann und nur dann ist Wandel durch Handel möglich.