Politik und Religion stehen bekanntlich in einem etwas angespannten Verhältnis zueinander. Sie entwerfen beide ein Ideal der Herrschaftsorganisation unter ihrer Macht, predigen auf die eine oder andere Weise Heilsversprechen und versuchen möglichst viele Mitglieder unter sich zu vereinen – die einen mit Blick auf die nächste Wahl, die anderen mit der Ewigkeit im Sinn. Doch in puncto Mobilisierung von Anhängern sehen sich SPD, Grüne und die Kirche mit ganz ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Deutlich weniger Menschen wählen mittlerweile diese Parteien oder sind noch Mitglieder in den hierzulande dominanten Religionsgemeinschaften. Währenddessen verzeichnet die erst 2013 gegründete AfD Wahlerfolg nach Wahlerfolg – und das hauptsächlich dank der Unterstützung säkularer Wähler. Übrigens haben die evangelische und die katholische Kirche zwischen 2013 und 2022 in etwa so viele Mitglieder verloren (circa sieben Millionen) wie die AfD Stimmen bei der erst kürzlich abgehaltenen Europawahl bekam (circa 6,5 Millionen). Natürlich kann hier nicht von Kausalität die Rede sein, doch wirft dies zumindest Fragen über das Verhältnis von Religion und Politik sowie über deren Funktion und Beliebtheit auf.
Welche Rolle Religionen in unserer Gesellschaft überhaupt noch spielen und warum der Vormarsch der Säkularisierung wohl stagnieren wird, hat Shadi Hamid in seinem Beitrag für Foreign Affairs dem Buch The Divine Economy: How Religions Compete for Wealth, Power, and People entnommen. In seinem Artikel heißt es – entgegen jeglichen aufklärerischen Behauptungen, Religion werde bald in Vergessenheit geraten –, dass der Wirkmechanismus einer Teilhabe in Religionsgemeinschaften aktueller denn je sei. Damit ist die Lieferung eines überirdischen Sinns gemeint, der in unserer hochgradig entzauberten Welt wieder für ein magischeres Leben sorgen könnte. Diese Einigung auf einen ähnlichen Lebenssinn in solchen Gemeinschaften sorgt natürlich für ein besonderes Wir-Gefühl durch öffentliche Rituale und geteilte Erfahrungen, die durchaus identitätsstiftend wirken können. Und danach sehnen sich Menschen schon immer.
Dies spiegelt sich durchaus in globalen Trends wider. Laut einer Prognose über die Zukunft der Weltreligionen wird der Anteil der Christen und Hindus an der Weltbevölkerung bis 2050 ungefähr gleich bleiben, während der Anteil der Muslime stark steigen wird. Hamid begreift diesen Trend – auf dem erwähnten Buch aufbauend – als eine rationale Entwicklung und konzeptualisiert Religionen als Wirtschaftsgiganten, die ein maßgeschneidertes Angebot für die fundamentalste aller Nachfragen liefern. Einer scheinbar irrationalen Glaubensentscheidung kann durchaus eine tief verankerte Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde liegen. Denn weltweit sind Menschen in einer Religionsgemeinschaft tendenziell glücklicher und zivilgesellschaftlich engagierter als ihre konfessionslosen und nicht-praktizierenden Nachbarn. In den USA trifft dies jedoch nicht auf diejenigen Personen zu, die zwar nicht in eine kirchliche Struktur eingebunden sind, sich aber weiterhin als strenggläubig bezeichnen. Dieser Gruppe von Christen abseits der Kirche fehlt somit ein Gemeinschaftsgefühl, was laut Hamid wiederum deren erhöhte Selbstmordrate und die starke Loyalität gegenüber Trump erklärt.
In jüngster Vergangenheit haben populistische Bewegungen immer wieder versucht, die absolute Überzeugung und den rituellen Charakter von Religionen zu imitieren.
Insgesamt verzeichnen die keiner Religionsgemeinschaft Zugehörigen den größten relativen Rückgang. In absoluten Zahlen werden die Atheisten und Agnostiker in unserer Mitte in den nächsten 25 Jahren demnach kaum zulegen. Dass hierzulande die Evangelen und Katholiken in letzter Zeit immer wieder den säkularen Teufel an die Wand gemalt haben, scheint demnach eher ein auf Westeuropa begrenztes Phänomen zu sein. Dort lässt sich als einzig augenscheinlicher Unterschied feststellen, dass in Frankreich der Laizismus nahezu gepredigt wird, während es in Deutschland regelmäßig eine christlich-demokratische Partei an die Spitze der Meinungsumfragen schafft. Und doch eint beide Länder die ständige Rede von weiteren Wellen der Säkularisierung. Da in Frankreich die Religionszugehörigkeit offiziell nicht erfragt werden darf, kann hier keine plakative Gegenüberstellung des Rückgangs der Mitglieder in Religionsgemeinschaften mit dem Stimmenzuwachs des Rassemblement National getätigt werden. Dennoch würde eine solche Korrelation durchaus Sinn ergeben.
In jüngster Vergangenheit haben populistische Bewegungen immer wieder versucht, die absolute Überzeugung und den rituellen Charakter von Religionen zu imitieren. Rechtsextremismus und Nationalismus beschwören ganz ähnlich einen Zusammenhalt, der in der jeweiligen vorgestellten Gemeinschaft von Gleichgesinnten praktiziert und kultiviert wird. Dass sich die AfD vor allem in Ostdeutschland zunehmender Beliebtheit erfreut, erscheint vor dem Hintergrund, dass dort nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder sind, ein wenig naheliegender.
Doch Hamids Analyse soll unterm Strich Hoffnung machen. Er weist darauf hin, dass die weltlichen Ideologien – und somit die Versprechen von rechtspopulistischen und anderen Strömungen – vergänglicher Natur sind und zudem einer schnelllebigen Politik unterliegen. Der den Parteien inhärente weltliche Fokus ist zugleich ihre Achillesferse. Religionen liefern hingegen Antworten auf dauerhafte, existenzielle Fragen und können auf ihre Mitglieder durchaus eine mäßigende Wirkung haben. So positionierte sich die Deutsche Bischofskonferenz im Februar einstimmig gegen die AfD und beschrieb die Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Partei und kirchliches Engagement als unvereinbar. Daher wurden auch zum Katholikentag in Erfurt keine AfD-Vertreter zu den politischen Foren eingeladen, was wiederum gesamtgesellschaftlich Wirkung zeigt. Dies bezeichnet Hamid als Paradox der Säkularisierung: Religionen sind auf individueller Ebene in Westeuropa zwar in den Hintergrund geraten, sie erfüllen in gesellschaftlichen Debatten und Positionierungen dennoch wichtige Funktionen. Vielleicht haben wir vor diesem Hintergrund Gott etwas voreilig getötet, wenn gerade die kirchlichen Institutionen im Kampf gegen den Rechtsextremismus eine Unterstützung sein könnten.