Auf den ersten Blick ist der Eindruck, die politische Landschaft in den USA sei in den vergangenen Jahren insgesamt nach rechts gerückt, kaum von der Hand zu weisen. Die Wahl des Rassisten und Sexisten Donald Trump zum 45. US-Präsidenten im Jahr 2016; vier Jahre später seine Weigerung, die Wahlniederlage einzugestehen samt dem von ihm unterstützten Sturm auf das Kapitol; die Verwandlung der Republikaner – einer der beiden großen Parteien – in eine Unterstützungsorganisation all dessen. Diese Entwicklungen scheinen die Annahme zu belegen. Ein verengter Blick blendet jedoch aus, dass auch auf der anderen Seite des Spektrums Bewegung ist. Der Einfluss der linken und progressiven Kräfte in den USA hat – in Deutschland weitgehend unbemerkt – kontinuierlich zugenommen.

Lukas Hermsmeiers nun erschienenes Buch Uprising. Amerikas neue Linke beleuchtet diese Kräfte, die nicht zuletzt auch die Politik im Weißen Haus und im Kongress verändern. Wie ist es dazu gekommen, dass Joe Biden, der langjährige Vertreter der Mitte der demokratischen Partei, nun das Ende der Trickle-down-Ökonomie verkündet, dazu verlangt, dass die Reichsten und die großen Unternehmen ihren fairen Anteil an den Steuereinnahmen zahlen, und sich für hohe staatliche Investitionen in Infrastruktur, Soziales und Bildung ausspricht? In den USA hat „ein anderer Wandel stattgefunden, eine gesellschaftliche Verschiebung, von der seltener erzählt wird und deren Wirkung sich gerade erst entfaltet. Das Land ist nicht nur nach rechts, sondern auch nach links gerückt. Wir erleben eine zunehmende Polarisierung, die insbesondere Beobachter*innen aus der Mitte Angst bereitet, die aber in vieler Hinsicht Hoffnung machen sollte“, schreibt Hermsmeier und nimmt uns, die Leserinnen und Leser, mit auf eine Reise durch diesen Teil der amerikanischen Gesellschaft.

Der Einfluss der linken und progressiven Kräfte in den USA hat – in Deutschland weitgehend unbemerkt – kontinuierlich zugenommen.

Auch ich habe mich auf eine Reise durch die USA begeben, um dieses „andere“ Amerika kennenzulernen. Zwölf Jahre war ich Vizevorsitzender der Parlamentariergruppe USA und habe in dieser Zeit unzählige Male das Land besucht. Ich habe Abgeordnete beider Parteien kennengelernt, Kontakte zu Thinktanks und Medien geknüpft und natürlich die Entwicklungen im Land verfolgt. Nach meiner Zeit im Deutschen Bundestag habe ich mich aufgemacht, das progressive Amerika kennenzulernen. Gleich zu Beginn meiner Reise traf ich Lukas Hermsmeier, der mir von seinem Buchprojekt über Amerikas neue Linke erzählte.

In Uprising. Amerikas neue Linke nimmt der Autor uns mit zum Beginn des neuen Aufschwungs – der Besetzung des Zucotti-Parks in Manhattan durch Occupy Wallstreet vor zehn Jahren. Er beleuchtet die wohl stärkste sozialistische Bewegung in den USA, die Democratic Socialists of America (DSA), deren Mitgliederzahl sich in den letzten Jahren vervielfacht hat. Und er schaut auf die Demokraten im US-Kongress. Auch die Black Lives Matter-Bewegung, die sich nach der Ermordung von George Floyd durch den Polizisten Derek Chauvin durch das ganze Land zog, spielt in dem Buch natürlich eine Rolle. Hermsmeier ist es dabei wichtig, immer auch an die Wurzeln der Probleme zu gehen: So beschreibt er unter anderem die kritische Auseinandersetzung der amerikanischen Linken mit der Frage, wie viel Polizei und wie viele Gefängnisse die US-Gesellschaft überhaupt braucht. Er führt die verschiedenen Schwerpunkte des Aktivismus vor Augen, beispielsweise den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel, wo sich vor allem junge Amerikanerinnen und Amerikaner engagieren, und den Einsatz der indigenen Bevölkerung gegen die Zerstörung ihrer Heimat zum Profit der Ölkonzerne. Er zeigt dabei auch auf, wie die junge New Yorker Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez in die Politik kam: Nach einem Besuch im Reservat Standing Rock in den Dakotas, wo sie sich solidarisch mit den Menschen zeigte, die gegen den Bau einer Pipeline demonstrierten, beschloss sie, in ihrem Heimatbezirk für einen Sitz im Abgeordnetenhaus zu kandidieren.

Hermsmeier nimmt uns auch mit nach Bessemer in Alabama, wo die Beschäftigten in einem Warenlager von Amazon darum kämpfen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Er beschreibt, wie Jeff Bezos’ Unternehmen nichts unterließ, um genau das zu verhindern: „Die Angestellten wurden zu Gruppengesprächen geordert, in denen ihnen eingebläut wurde, dass sie ohne eine Interessensvertretung bessergestellt seien. Das Unternehmen richtete extra eine Anti-Gewerkschafts-Website ein und klebte entsprechende Plakate an die Wände in den Toiletten. Sogar die Ampelschaltung vor dem Gelände wurde verändert, damit die Gewerkschaft weniger Gelegenheit zur Kontaktaufnahme bekam.“ Der erste Anlauf der gewerkschaftlichen Organisation scheiterte. Aber jetzt gibt es neue Hoffnung: Die Abstimmung muss wegen des unfairen Agierens von Amazon wiederholt werden. „Es passiert nicht oft, dass sich die Öffentlichkeit für Gewerkschaften interessiert. Gewerkschaften gelten bei vielen in ihrer jetzigen Form als überholt, ihre Entscheidungsprozesse als intransparent, hierarchisch oder sogar korrupt. Eine Bedrohung für die Marktwirtschaft sehen manche in ihnen – zum Beispiel Unternehmenschefs, die sich totale Flexibilität wünschen.“ Doch das ändert sich gerade, weil sich immer mehr Menschen von unten organisieren. Im New Yorker Bezirk Staten Island gelang es nun: Ende März stimmte erstmals eine Mehrheit der Beschäftigten in einem Amazon-Warenlager in den USA für die Gründung einer Gewerkschaftsvertretung.

Meine Erfahrung der letzten zwölf Jahre ist, dass es falsch war und ist, sich lediglich auf das politische Zentrum in dem polarisierten Land zu fokussieren.

Mindestens bei all jenen, die sich beruflich mit den USA befassen, sollte Hermsmeiers Buch Pflichtlektüre werden. Aber auch allen anderen lege ich es ans Herz. Hermsmeiers profunde Kenntnis des Landes, in dem er seit acht Jahren lebt und als Journalist arbeitet, hilft, die USA besser zu verstehen. Für seine Recherche reiste Hermsmeier an die Orte des Geschehens und sprach mit Aktivistinnen und Aktivisten der verschiedenen Bewegungen. Die Eindrücke des Buches bestätigten sich mir bei meinen eigenen Begegnungen im Land. In meinen Gesprächen, unter anderem mit jungen Mitgliedern der DSA in Philadelphia, mit einer Historikerin in Manhattan und einem Gewerkschafter in Chicago, hörte ich über den Rassismus, der immer noch vieles bestimmt; über die Radikalität mancher Forderungen, die in dieser Art für uns in Deutschland sehr ungewohnt ist; aber auch über den Optimismus der Menschen, die sich für Wandel einsetzen. Als ich mir mit dem kommunistischen Gewerkschafter Scott Marshall bei Starbucks im Chicagoer Viertel Hyde Park einen Kaffee holte, fordert dieser den Barista auf, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Als Antwort erhielten wir ein fröhliches Zwinkern. Seit im Dezember des vergangenen Jahres in Buffalo, New York, erstmals die Belegschaft einer Starbucks-Filiale für gewerkschaftliche Organisation stimmte, folgen trotz erbitterter Gegenwehr des Konzerns immer weitere Filialen. 

Meine Erfahrung der letzten zwölf Jahre ist, dass es falsch war und ist, sich lediglich auf das politische Zentrum in dem polarisierten Land zu fokussieren. Als Donald Trump Präsident wurde, gab es hier in Deutschland de facto keine Kontakte zu seinem Umfeld, das dann die Regierung stellte. Und bei Bernie Sanders denken immer noch die meisten hier an das lustige Bild mit seinen Handschuhen bei der Amtseinführung von Joe Biden. Dass er inzwischen einflussreicher Vorsitzender des Haushaltsausschusses des US-Senats ist und seine Progressiven fast die Hälfte der Demokraten im Repräsentantenhaus ausmachen, ist hingegen kaum bekannt. Beharrlich wird hierzulande über die „Flügel“ in der Partei berichtet, deren Streit angeblich Joe Bidens Sozial- und Klimapaket Build Back Better verhindern würde. Dabei haben die Linken im Kongress mit dem Weißen Haus einen Kompromiss verhandelt, den 90 Prozent der demokratischen Abgeordneten unterstützen und der lediglich von zwei demokratischen Senatoren – Joe Manchin und Kyrsten Sinema – blockiert wird.

Es stimmt nicht, dass sich Rechts und Links gleichermaßen radikalisieren.

Die amerikanische Linke ist stärker geworden. Dabei ist ein differenzierter Blick wichtig: Es stimmt nicht, dass sich Rechts und Links gleichermaßen radikalisieren. Die Republikanische Partei verwandelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit in eine rechtsradikale Sekte, in der jene gemaßregelt werden, die die Demokratie verteidigen, und diejenigen unterstützt werden, die den Sturm auf das Kapitol begrüßen. Einer Partei, die demokratische Wahlergebnisse nicht anerkennt, können wir auch in Deutschland nicht neutral gegenübertreten.

Das Land hat sich verändert: „Zum ersten Mal seit langer Zeit spürt man in den USA so etwas wie eine Aufbruchstimmung von unten. Alles andere als permanent, aber immer wieder, an immer mehr Orten, immer stärker“, schreibt Lukas Hermsmeier über den Aufstieg eines Teils des politischen Spektrums, den wir hier in Deutschland bislang viel zu wenig beachtet haben. Sein Buch kann und sollte das ändern.