Die Fragwürdigkeit des arabischen Nationalismus wie des politischen Islams nimmt Autor Aref Hajjaj in den Blick, wenn er nach der Zukunft Palästinas sucht. Ob es dafür Hoffnung gibt, versieht er mit einem Fragezeichen. Die Sicht Hajjajs ist von seiner Biographie mitbestimmt. 1948 aus Palästina vertrieben, wuchs er in Beirut und Kuwait auf, studierte in Deutschland Politikwissenschaft und Völkerrecht, war als Dolmetscher im Auswärtigen Amt tätig und ist Vorsitzender des Palästina-Forums. Ihm sind die Geschichte des Nahen Ostens und die Geschichte arabischen wie deutschen poltischen Denkens gewärtig. Das nutzt er, um das arabische Denken seit Ende des 19. Jahrhunderts verständlich zu machen. Dies wurzelt in negativen Beweggründen, im Empörungspotenzial über Rückständigkeit und Zersplitterung der arabischen Länder und in Gegenerschaft zu äußeren Feinden, zunächst auch zur osmanischen Herrschaft, dann zu den europäischen Kolonialmächten.
Der frühe arabische Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts – zu seinen Repräsentanten gehörten arabische Christen – fand seinen geistesgeschichtlichen Bezug im deutschen Nationalismus, exemplarisch formuliert durch Johann Gottlieb Fichte. Auch bei ihm war Nationalismus geprägt durch Widerstand gegen den äußeren Feind – also Frankreich – postuliert gegen die staatliche Zersplitterung Deutschlands. Beide Nationalismen betonen die Gemeinsamkeit von Sprache, Ursprung, Geschichte, Kultur und Bildung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Europa auch der jüdische Zionismus, verkörpert durch Theodor Herzl, deutschsprachiger österreichischer Jude. Diskriminierungen und Progrome gegen Juden waren die – wiederum negativen – Beweggründe. Der Zionismus war eine religiöse wie nationalistische Antwort, der arabische Nationalismus wurde zunehmend religiös.
Arabischer Nationalismus als Politik arabischer Staaten, allen voran des bevölkerungsreichsten – Ägypten –, entwickelte sich im Konflikt gegen Israel.
Mit der Gründung des Staates Israel wurde Zionismus zur völkerrechtlichen Realität. Es gibt diesen Staat seit 1948 auf Beschluss der Vereinten Nationen, mit Zustimmung sowohl der USA wie der Sowjetunion. Arabischer Nationalismus als Politik arabischer Staaten, allen voran des bevölkerungsreichsten – Ägypten –, entwickelte sich im Konflikt gegen Israel. Dabei manifestierte er sich panarabisch wie jetzt auch bei den Palästinensern nationalstaatlich. Der israelisch-palästinensische Konflikt war für beides ausschlaggebend. Den Panarabismus propagierte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser, die besondere Begründung lag in der Unterstützung für die Palästinenser. Der Anspruch auf einen palästinensischen Nationalstaat entstand in der Diaspora, durch Gründung der Fatah 1958 in Kuwait und der PLO 1964 durch Ägypten. 1993 wurde dann in Oslo den Palästinensern ein Staat versprochen. Seine Verwirklichung beißt sich mit der Vorstellung vom angestammten israelischen Land.
Nahost-Politik von 1948 bis heute berufht auf der europäischen nationalstaatlichen Vorstellung von Völkerrecht. Entsprechend sind ein israelischer und ein palästinensischer Staat die Lösung, die international formuliert ist. Dessen Scheitern hat den Panislamismus politisch relevant werden lassen.
Panislamismus hatte sich zunächst eher unverbunden mit arabischem Nationalismus artikuliert. Er wurde wirkungsmächtig, je mehr arabischer Nationalismus versagte und die Kritik an US-amerikanischer und europäischer Politik wuchs. Vor allem Wahhabismus und Salafismus gehören in diesen panislamischern Kreis. Ihnen geht es um die Durchsetzung eines reinen Islams der Frühzeit, durch Erziehung und Bestrafung. Dabei haben die Wahhabiten mit Saudi-Arabien bereits ihren Staat. Mit der Gründung der Muslimbruderschaften konkretisierten sich panislamistische Bestrebungen. Sie richteten sich mit Erneuerungsforderungen nach innen gegen Korruption und Vetternwirtschaft, nach außen gegen koloniale Einflüsse. Einer ihrer Ableger wurde die palästinensische Hamas. Das Ausbleiben wirklicher palästinensischer Staatlichkeit führte zu ihrem Aufstieg.
Dieser Islamismus gründet auf der Ablehnung politischer Konzepte, die in Europa entstanden und praktiziert wurden.
Dieser Islamismus gründet auf der Ablehnung politischer Konzepte, die in Europa entstanden und praktiziert wurden, sei es westlich-kapitalistischer Liberalismus, sei es Kommunismus, sei es auch Faschismus. Diese Ablehnung mündete in die Suche nach islamischen Antworten. Bei extremer Gegnerschaft führt sie bis zum Dschihadismus, der in nihilistische Gewalt umschlagen kann. Für die Nahost-Politik europäischer Staaten ist es verhängnisvoll, die Ablehnung sowohl des westlichen Kapitalismus wie des Kommunismus nicht zu erkennen, in der Perzeption des Arabischen Frühlings hat das fatale Folgen. Ägypten ist wieder ein autoritäres Militärregime, Libyen ist de facto aufgelöst. Baschar al-Assad als Postkommunisten einzuordnen, ist falsch, der syrische Bürgerkrieg ist zum Feld eines wiederbelebten Großmachtspiels zwischen den USA und Russland geworden.
Aufbauend auf seiner Analyse der Entstehung des arabischen Nationalismus wie des Zionismus kommt Hajjaj zu seiner Kernthese: „Die Wurzeln des Nahost-Konflikts sind nicht im Nahen Osten, sondern einzig in Europa zu suchen.“ Die dem völkerrechtlichen Denken Europas entsprechende Lösung ist die Zwei-Staaten-Lösung.
Nach Auffassung Hajjajs ist sie zwar die „grundsätzlich optimale“ Lösung. Aber es wäre weder zeitgemäß noch opportun, den Staat Palästina als Nationalstaat konzipieren zu wollen. Dieses Konzept hätte angesichts der globalisierten Welt keine realistischen Zukunftsperspektiven. „So gesehen ist das Zwei-Staaten-Modell mittlerweile gescheitert.“ Und damit „gibt es langfristig keine Alternative zur Option eines gemeinsamen Staates für Israelis und Palästinenser.“
Die Mehrheit der Palästinenser bekundete ihren Willen, mit Israel in Frieden zu leben, sei es in Form einer Zwei-Staaten-Lösung, sei es in der bi-nationalen Option.
Diese Option verbindet Hajjaj mit seinem Widerspruch zu der These von der Unlösbarkeit des israelisch-palästinensischen Konflikts. „Der Konflikt ist lösbar“, so der Autor. Die Mehrheit der Palästinenser bekundete ihren Willen, mit Israel in Frieden zu leben, sei es in Form einer Zwei-Staaten-Lösung, sei es in der bi-nationalen Option. Maßgebliche Vertreter des politischen Systems Israels bekennen sich hingegen lediglich in Form eines Lippenbekenntnisses zur Zwei-Staaten-Lösung; die Siedlungspolitik aber macht dieses Modell undurchführbar. Hajjaj befürwortet robustes Einwirken von außen, auch um der Instrumentalisierung der Palästina-Frage durch Dschihadisten und andere Terroristen Einhalt zu gebieten. Aber es fehlt ein ehrlicher Makler. „Die USA sind (…) entschieden pro-israelisch, die EU ist außenpolitisch konzeptionslos und die arabischen Regimes (…) orientierungslos und ohne eine gemeinsame nachhaltige Agenda in der Außen- und Sicherheitspolitik (…), darin liegt der Kern des palästinensischen Problems.“
Diese Auffassung, schon 2016 aufgeschrieben, erscheint bestätigt durch die jüngste Nahost-Konferenz in Paris, an der weder Israel noch die Palästinensische Autonomiebehörde teilnahmen. Sie konnte die Realisierung der Nahost-Politik des US-Präsidenten Donald Trump noch nicht kennen.