Die Europäische Union wird oft als ein Elitenprojekt beschrieben. Die Diskurse als selbstreferentiell und nur für „Eingeweihte“ aus der Brüsseler Blase wirklich verständlich. Die Konferenz zur Zukunft Europas, die am 9. Mai begann, soll hier ein Stück weit Abhilfe schaffen und die europäischen Bürgerinnen und Bürger in die Diskussion über die Zukunft Europas stärker einbeziehen. Ob dies gelingen kann, noch dazu in Zeiten der Pandemie, ist die große Frage. Unabhängig von den Erfolgsaussichten der Konferenz ist klar: Die Fragen zur Zukunft Europas und der EU sind wichtig und in vielerlei Hinsicht offen. Ein guter Anlass, um sich in die politische Diskussion einzubringen, ist die Konferenz also allemal.
Aber was sind die wichtigen Fragen und die wichtigen Themen, um die es geht? Jene Themen, zu denen man sich verhalten sollte, ja vielleicht sogar müsste? Die Liste ist lang und komplex: Zu unzähligen Einzelthemen findet sich politikwissenschaftliche und europarechtliche Fachliteratur in Hülle und Fülle. Das Labyrinth aus Verträgen, Paragraphen, Gesetzen, Konzepten und Strategien erscheint endlos und verstellt nur zu oft den Blick auf das große Ganze einerseits und das Praktisch-Alltägliche andererseits. Oder anders formuliert: den Blick auf die langen Entwicklungslinien des Friedens- und Integrationsprojektes Europa und die konkrete menschliche Dimension der abstrakten Idee europäischer Integration. Genau diese Kombination findet man im Buch „Große Erwartungen“ des niederländischen Journalisten Geert Mak.
Ein guter Anlass, um sich in die politische Diskussion einzubringen, ist die Konferenz also allemal.
In beindruckender Leichtigkeit und Klarheit vermittelt es die wichtigen Entwicklungen und Krisen der Europäischen Integration in den letzten beiden Jahrzehnten und ordnet diese ein. In ihrer systemischen Dimension ebenso wie in ihrer persönlichen und alltäglichen Dimension: von der – vielleicht ein wenig naiven – Euphorie der Jahrtausendwende (in der die größte Sorge nicht der politischen oder wirtschaftlichen Zukunft der EU sondern dem vielbeschworenen Millenium Bug galt), über die Terroranschläge des 11. September 2001, die große EU-Erweiterung 2004, die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, Euromaidan und Krim-Annexion, die Flüchtlingskrise, die Verwerfungen im Transatlantischen Verhältnis während der Trump-Präsidentschaft bis hin zur beginnenden Corona-Pandemie. Neben dem leichtfüßigen Stil des Autors sind es auch die unermüdliche Reisetätigkeit, die vielen konkreten Eindrücke aus den verschiedensten Ecken des Kontinents, die persönlichen Erfahrungen und Geschichten der Gesprächspartner, die die über fünfhundert Seiten so lesenswert machen.
Wenn man dem Autor dabei etwas vorwerfen möchte, dann vielleicht, dass er nicht noch mehr gereist ist und mit seinem Projekt nicht schon in den 1980ern oder 1990ern begonnen hat. Kennt man den Hintergrund des Buches, erübrigt sich diese Kritik allerdings: Es schließt an eine Sammlung von Reiseberichten von Mak aus dem Jahr 1999 an. Als Korrespondent der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad bereiste er den Kontinent am Vorabend des Millenniums und verfasste regelmäßige Kolumnen, die dann 2004 in Form des Buches „In Europa“ veröffentlicht wurden.
In seinem aktuellen Buch schließt er daran an; u.a. auch mit einigen derjenigen Gesprächspartner, mit denen er bereits vor 20 Jahren sprach. Somit erklärt sich die Struktur und Herangehensweise des Buches. Interessanterweise sind sowohl „In Europa“ als auch „Große Erwartungen“ keine Bücher allein über die Europäische Union. Mak beginnt „Große Erwartungen“ sogar in Norwegen. Es ist also klar, dass für ihn Europa nicht an den Grenzen der heutigen EU endet, auch wenn diese Grenzen gerade im Kapitel über die Flüchtlingskrise besonders eindrücklich und bedrückend in den Blick genommen werden.
Neben dem leichtfüßigen Stil des Autors sind es auch ... die persönlichen Erfahrungen und Geschichten der Gesprächspartner, die die über fünfhundert Seiten so lesenswert machen.
Mak spricht über ein Europa, in dem auch dem nicht-EU-Teil des Kontinents viel Aufmerksamkeit gewidmet wird und über dessen „Grenzen“ Mak schon in „In Europa“ einen bemerkenswerten Gedanken formuliert hatte: „Huntingtons Trennlinie mag auf den ersten Blick überzeugend erscheinen, in Wirklichkeit aber ist ihr Verlauf sehr viel launenhafter und wird viel stärker durch momentane Emotionen und aktuelle Erfahrungen bestimmt“. Gerade deswegen überrascht ein wenig, dass der Blick Maks auf die Türkei dieses Mal recht kurz ausfällt. Überraschend deshalb, weil Mak durchaus schon 2004 in „In Europa“ und dann auch noch einmal separat, in einem kleinen Band über die „Brücke in Istanbul“ (erschienen 2007) diesem Teil Europas seine Aufmerksamkeit widmete.
Ein Satz aus der „Brücke von Istanbul“ ist mir besonders in Erinnerung geblieben und beschreibt die Leerstelle, über die ich in der Lektüre der großen Erwartungen nun gestolpert bin. So schrieb Mak 2007: „Heute ist Istanbul für die Länder um das Schwarze Meer wieder „die Stadt“, (…) und wenn die Türkei irgendwann der Europäischen Union beitritt, könnte Istanbul durchaus zu einem neuen Byzanz werden, zu der Metropole Südosteuropas und des Nahen Ostens“. Von dieser großen Erwartung ist nun in Maks jüngstem Buch keine Rede mehr, die Türkei kommt vor allem mit Blick auf ihre Rolle in der Flüchtlingskrise und die Politik von Präsident Erdogan zur Sprache. Zu gerne hätte man aber Mak auch noch einmal im Gespräch über die Erwartungen an Europa mit dem „Sohlenmann“, dem „Buchhändler“ oder dem „alten spanischen Ehepaar“ an der Galata-Brücke Gesellschaft geleistet.
Schon im Titel der Konferenz, aber auch bei vielen anderen aktuellen Prozessen und Narrativen muss man aufpassen, nicht Teil eines neuen exklusiven Projekts zu werden.
Was haben all diese kleinen und großen Geschichten rund um Europa denn nun bitte mit der Konferenz zur Zukunft Europas zu tun, mag man an dieser Stelle fragen. Bei der Konferenz geht es doch vor allem um Fragen zur Reform der Europäischen Union und ihrer Strukturen. Genau das aber ist der erste von zwei wichtigen Punkten, die man beim Lesen von Mak realisieren sollte: Schon im Titel der Konferenz, aber auch bei vielen anderen aktuellen Prozessen und Narrativen muss man aufpassen, nicht Teil eines neuen exklusiven Projekts zu werden. Eines Projektes, das zunehmend in Anspruch zu nehmen scheint, für „Europa“ als Ganzes zu sprechen, wo es doch eigentlich um die Europäische Union in ihrer aktuellen Zusammensetzung geht. Denn seien wir ehrlich: Bei der Konferenz zur Zukunft Europas geht es doch ebenso wie bei der strategischen Autonomie oder der Souveränität Europas zunächst einmal nur um die Europäische Union. Die Zukunft Europas wird aber nicht allein in der EU entschieden.
Die zweite und meines Erachtens wichtigste Einsicht, die man aus der Lektüre von „Große Erwartungen“ ziehen kann ist aber eine durch und durch positive. Die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, Iratxe García Pérez, schrieb im April zur Konferenz zur Zukunft Europas in der IPG: „Unsere Debatte darf sich nicht auf die kosmopolitischen Eliten oder auf die Hauptstädte beschränken. Auch müssen wir jungen Menschen eine prominente Rolle geben“. Wer Mak in seinem aktuellen Buch sowohl durch die Hauptstädte als auch durch die Provinzen Europas folgt, stellt fest, dass wir auf diesem Weg – ohne es vielleicht zu merken – schon ein gutes Stück vorangekommen sind.
Die Debatte, das Sprechen und das Denken über die Europäische Union und Europa sind eben mittlerweile kein Elitenprojekt mehr. Mak selbst bringt diese fundamentale Einsicht glasklar, wenn auch im Fließtext an eher unauffälliger Stelle versteckt, auf den Punkt: „Als ich 1999 durch Europa reiste, konnte von einer europäischen Öffentlichkeit kaum die Rede sein, Europa spielte in der Berichterstattung nur eine Nebenrolle, wenige interessierten sich wirklich für das europäische Projekt. Heute, zwanzig Jahre später, ist Europa täglich ein Hauptthema auf den Titelseiten, wir interessieren uns für die Wahlen in Griechenland, Großbritannien, Frankreich oder Italien als wären es unsere eigenen (…). Das, worüber 1999 rein theoretische Überlegungen angestellt wurden, beginnt heute dank des Internets ganz allmählich Wirklichkeit zu werden: ein europäisches „Kaffeehaus mit permanenter öffentlicher Diskussion“. Diese ermutigende Einschätzung aus der Feder eines so klugen und empathischen Beobachters wie Mak sollten sich all jene zu Herzen nehmen, deren große Erwartungen an die Konferenz zur Zukunft Europas vielleicht dann doch wieder ein Stück weit enttäuscht werden könnten.