In diesen Tagen findet die zehnte Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Im Unterschied zur letzten Wahl vor fünf Jahren hat sich mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den zunehmenden Drohungen seitens Chinas gegen Taiwan nicht nur die weltpolitische Lage erheblich verändert. Sollten die Prognosen zu dieser Wahl zutreffend sein, könnten auch erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union rechtsgerichtete Parteien einen wesentlichen Einfluss auf die Staatengemeinschaft haben. Entschieden wird daher nicht nur über eine neue Zusammensetzung des Parlaments, mit der die traditionelle Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten beendet werden könnte, sondern auch über das politische Selbstverständnis des Kontinents und über seine zukünftige Rolle in der Weltpolitik. Denn die Wahl fällt zusammen mit dem Ende der historischen Epoche eines globalen Liberalismus, die vor über 30 Jahren mit dem Fall der Berliner Mauer ihren Anfang nahm und deren Hoffnungen heute kaum noch jemand teilt. Das Ende der Geschichte ist tatsächlich eingetroffen, nur anders als erwartet.
Zu den politischen Analysten, die sich intensiv mit der Frage beschäftigt haben, was sich in diesen drei Jahrzehnten seit dem Untergang der Sowjetunion derart grundsätzlich am Gefüge der Weltordnung verändert hat, gehört der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev. Vor allem in seinen beiden Büchern Europadämmerung (2017) und Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung (2019), das letztere geschrieben zusammen mit dem amerikanischen Rechtswissenschaftler Stephen Holmes, versucht er, für die Zeit zwischen 1989 und unserer Gegenwart eine welthistorische Konstellation herauszuarbeiten, in der die politische Mimesis zwischen den verbliebenen Mächten nach dem Ende des Kalten Kriegs eine entscheidende Rolle spielt. Schon häufig haben Politiken der Nachahmung das Schicksal ganzer Epochen bestimmt, vor allem in der europäischen Geschichte, aber auch unter kolonialen Bedingungen. Beispielhaft dafür ist die deutsch-französische Rivalität über mehrere Jahrhunderte, an deren Beginn das deutsche Begehren stand, so sein zu wollen wie der bewunderte Andere.
Sollten die Prognosen zu dieser Wahl zutreffend sein, könnten auch erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union rechtsgerichtete Parteien einen wesentlichen Einfluss auf die Staatengemeinschaft haben.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Krastev bildet die These, dass sich die aktuelle Konfliktlage der Weltpolitik nicht allein anhand der Differenz von Demokratien und Autokratien begreifen lässt, die für manche Beobachter an die Stelle der politischen Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Kommunismus aus der Blockkonfrontation des 20. Jahrhunderts getreten ist. Denn im Unterschied zum Kalten Krieg ist die gegenwärtige Rivalität der Weltmächte kein symmetrisch angeordneter Streit um philosophische Prinzipien. Der ehemalige Eiserne Vorhang war nicht nur eine territoriale Markierung, sondern auch eine ideologische und sogar geschichtsphilosophische. Beide politischen Systeme waren der gleichen Idee des Fortschritts verpflichtet und bezogen sich auf die gleiche philosophische Tradition. Daher konnten sie sich ineinander spiegeln und miteinander wetteifern. Das machte ihre besondere Feindschaft aus. Beide Systeme sahen sich auf dem einzigen richtigen Weg, der die wahre Geschichte der Menschheit sein sollte. Einer der beiden Wege musste somit zwangsläufig falsch sein und in einer Sackgasse enden.
Als Francis Fukuyama nach den weltpolitischen Umbrüchen von 1989 in diesem Sinne seine berühmte These vom Ende der Geschichte formulierte, sah er sich selbst in der geschichtsphilosophischen Tradition von Hegel und des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen berüchtigten Hegel-Vorlesungen in Paris die Möglichkeit eines „Stillstands der Geschichte“ diskutiert hatte. In dieser Tradition stellt die Geschichte nicht bloß eine Aneinanderreihung historischer Ereignisse dar, sondern sie verkörpert philosophische Prinzipien, deren Wahrheiten sich nur geschichtlich offenbaren können. Allein vor diesem Hintergrund konnte der Untergang der Sowjetunion für Fukuyama den historischen Beweis dafür liefern, dass der „liberalen Demokratie und dem mit ihr verbundenen Wirtschaftsliberalismus“ keine Alternative mehr entgegenstehe. Das Ende der Geschichte zu diagnostizieren, bedeutete daher nicht, dass nun nichts mehr geschehe, sondern dass es keinen Grund mehr gebe für die gewaltvolle Auseinandersetzung um die richtige politische Überzeugung.
Diese geschichtsphilosophische Rahmung fehlt der gegenwärtigen Konfliktlage. Ihre historischen Bedingungen sieht Krastev im Sieg des Westens und im Aufstieg der einzig verbliebenen Supermacht zum Weltpolizisten gegeben. Mit der neuen unipolaren Weltordnung gerieten demnach alle anderen Mächte unter einen verschärften Druck der Nachahmung, der nur unzureichend als Globalisierung mit ihren weltpolitischen Hoffnungen erfasst werden kann. Denn Nachahmung kann sowohl in Form einer Mimesis vollzogen werden, mit dem Ziel, letztlich genau so zu werden wie das dominante Vorbild, als auch in Form einer Mimikry, mit dem Ziel, sich dieser Dominanz durch eine partielle Anpassung zu entziehen. Spätestens mit Chinas forcierter Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen und dem Beitritt zur WTO stand zwar der Kapitalismus international nicht mehr zur Disposition, aber das bedeutete nicht, dass die politischen Unterschiede in einer Weltgesellschaft aufgehen würden. Im Gegenteil, an die Stelle des geschichtsphilosophischen Feldes der Unterschiede ist seitdem ein identitätspolitisches Feld getreten.
Für die Westeuropäer bedeute die Erweiterung der Europäischen Union dagegen die Aussicht auf eine postnationale Globalisierung.
Am Beispiel der Flüchtlingskrise von 2015, bei der sich von Anfang an ein tiefer Abgrund der Positionen zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Ländern auftat, hat Krastev die Effekte dieses neuen identitätspolitischen Feldes in Europadämmerung als „Graben zwischen denen“ beschrieben, „die den Zusammenbruch des Kommunismus und den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leib erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben“. Während die Osteuropäer mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union die Hoffnung verbanden, endlich souveräne Nationalstaaten nach westeuropäischem Vorbild zu werden, empfanden sie die Forderungen nach Solidarität als eine kosmopolitische Zumutung, die ihre gerade erworbene Identität bedrohe. Für die Westeuropäer bedeutete die Erweiterung der Europäischen Union dagegen die Aussicht auf eine postnationale Globalisierung, in der kein Platz mehr war für ausgeprägte Nationalgefühle. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Projekt einer illiberalen Demokratie auch aus den historisch unterschiedlichen Positionen innerhalb des identitätspolitischen Feldes in der Epoche der Nachahmung begreifen.
Mit der erfolgreichen Globalisierung nach 1989 ist erstmals in der Geschichte ein gemeinsamer symbolischer Rahmen für identitätspolitische Rivalitäten im internationalen Maßstab entstanden. Denn im Unterschied zur Blockkonfrontation gibt es heute weltweit sehr viel größere Gemeinsamkeiten, vor deren Hintergrund erst die politischen Unterschiede eine neue Bedeutung gewinnen. Gerade weil es keinen geschichtsphilosophischen Fluchtpunkt mehr gibt, sondern nur noch die dauerhafte Präsenz des Anderen, sind diese Unterschiede deutlich affektgeladener als die geschichtsphilosophischen Differenzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es sich dabei um eine Konfrontation einander fremder Kulturen handelt, sondern erst der globale Nachahmungsdruck hat die Frage nach der eigenen Identität überall auf der Welt in den Vordergrund gerückt. Anhand der russischen Rivalität zum Westen hat Krastev in Das Licht, das erlosch in diesem Sinne zu rekonstruieren versucht, wie aus der anfänglichen Nachahmung des Westens in den 1990er Jahren und dem zunehmenden Eingeständnis einer traumatischen Niederlage eine „Kriegserklärung an den Westen“ wurde.
Die Gefahr einer „mimetischen Krise“ ist aber nicht allein auf den Nachahmer beschränkt. Sie kann auch das Vorbild selbst betreffen, das den Folgen seines eigenen Sieges nicht gewachsen ist. Mit dem Status der USA als monopolistischer Anbieter von politischen Werten nach 1989 ging nicht nur eine unkalkulierbare Ausdehnung der liberalen Mission einher, sondern auch das zunehmende Gefühl einer Selbstüberforderung und sogar eine Ablehnung der internationalen Vorbildrolle in den USA selbst. „America First“, der politische Slogan der amerikanischen Populisten, macht den grundsätzlichen Unterschied zur langen geschichtsphilosophischen Tradition des amerikanischen Exzeptionalismus sehr deutlich: „Er [Donald Trump] ist der wohl erste amerikanische Präsident, der niemals, unter keinen Umständen, die berühmten Worte Woodrow Wilsons wiederholen könnte: ‚Ihr seid Amerikaner, es ist euch bestimmt, Freiheit und Gerechtigkeit und die Prinzipien der Menschlichkeit zu bringen, wohin ihr auch geht‘“ (Das Licht, das erlosch). Damit haben auch die USA das geschichtsphilosophische Feld verlassen und sind im identitätspolitischen Feld angekommen. Darauf wird sich Europa in naher Zukunft einstellen müssen, was nur möglich ist, wenn es mehr darüber lernt, wie sich die internationalen Beziehungen im identitätspolitischen Feld gestalten lassen.