Die britische Philosophin Kathleen Stock hat ihr Buch „Material Girls“ im Mai letzten Jahres veröffentlicht und damit eine heftige Kontroverse ausgelöst. An ihrer Universität Sussex wurde sie derart massiv schikaniert und gemobbt, dass sie im Oktober von ihrer Professur zurücktrat. Nicht nur radikale Studentinnen und Studenten, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schmähten sie – oft ohne ihr Buch überhaupt gelesen zu haben – als „hasserfüllt“ und „transphob“, nur weil sie sich gegen einige im Gender-Aktivismus vorherrschende Orthodoxien wendet.
Wer das Buch gelesen hat, weiß jedoch, dass es keineswegs Hass und Phobie verbreitet. Im Gegenteil: Es ist voller Empathie und Mitgefühl für Transmenschen und fordert auch radikale Feministinnen heraus – es sei denn, wir blähen diese Begriffe so auf, dass selbst gemäßigte Argumente als trans-ausgrenzend oder rechtsextrem gelten. Genau darum geht es in Stocks Buch: um die Theorie der Geschlechtsidentität und ihren religionsähnlichen Charakter.
Kathleen Stock analysiert in ihrem Buch, was wir in den vergangenen Jahren in der LGBT+-Bewegung erlebt haben: die Neubestimmung der Begriffe Mann/Frau von „männlichem/weiblichem Erwachsenen“ zu „erwachsener Mensch mit männlicher/weiblicher Geschlechtsidentität“. Das bedeutet, dass die Frage, Frau oder Mann zu sein, nicht mehr vom biologischen Geschlecht abhängt, sondern ausschließlich vom Gefühl der „Geschlechtsidentität“ bestimmt wird. Die politische Konsequenz wäre, dass das biologische Geschlecht keinen rechtlichen Schutz mehr verdient (für den Feministinnen seit Jahrzehnten kämpfen).
Die Autorin liefert viele besorgniserregende Beispiele dafür, dass diese Ansicht nicht auf aktivistische Subkulturen beschränkt ist, sondern in kürzester Zeit (seit circa 2014) die Mainstream-Medien, die Politik und sogar das Gesundheits- und Bildungswesen in Großbritannien erfasst hat. In Deutschland wurden jüngst die Eckpunkte für das Selbstbestimmungsgesetz eingeführt: Demnach soll jeder Mensch sein rechtliches Geschlecht durch eine Erklärung beim Standesamt ändern können, und zwar ohne psychologische und psychiatrische Gutachten. In der EU ist dies in Belgien, Dänemark, Irland, Malta und Portugal bereits Gesetzeslage.
Jede nicht-geschlechtskonforme Person hat das gleiche Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung und ohne Angst vor Gewalt.
Aber wie kann Stock, die nicht trans ist, es wagen, über dieses Thema zu sprechen? Das ist eine wichtige Frage, denn in der gegenwärtigen linken Praxis wird oft die Ansicht vertreten, dass sich zu bestimmten Fragen der sozialen Gerechtigkeit nur diejenigen äußern dürfen, die selbst davon betroffen sind, d. h. von denen angenommen wird, dass sie ahistorisch auf der Seite der Unterdrückten stehen. Stock schreibt: „Die Ansicht ist einleuchtend [...], dass [...] nur Transmenschen wirklich verstehen können, wie es ist, als Transperson in einer überwiegenden Cis-Welt zu leben. Aber von dort ist es dann doch ein gewaltiger Sprung hin zur Meinung, dass sich nur Transpersonen legitimerweise zur philosophischen Bedeutung und zu den praktischen Konsequenzen der Geschlechtsidentität – und zwar in Bezug auf alle – äußern dürfen. Als lesbische und nicht-geschlechtskonforme Frau betrifft mich das auch – ebenso als Akademikerin, die sich mit Konzepten befasst, wie auch als Feministin, die sich über andere Frauen Gedanken macht. Jedenfalls sind sich selbst Transmenschen untereinander über ihre Geschlechtsidentität uneins.“
Jede nicht-geschlechtskonforme Person (die also nicht den gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und Frauen entspricht) – sexuelle und geschlechtliche Minderheiten eingeschlossen – hat das gleiche Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung und ohne Angst vor Gewalt. Die aktuellen politischen Ziele des Trans- und Queer-Aktivismus gehen jedoch weit über diesen legitimen Anspruch hinaus, und zwar in dem Maße, wie die Begriffe Diskriminierung, Gewalt und Hass aufgebauscht werden – indem Gegenargumente gegen jede beliebige aktivistische Behauptung oder gegen sozialwissenschaftliche Forschungen zur Identitätsbildung oder zur Verbreitung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten als ebendies behandelt werden. Dieses Phänomen verdient es, wissenschaftlich und politisch beachtet zu werden.
Nach dem Ansatz der Geschlechtsidentitätstheorie ist das, was einen Menschen zu einem Mann oder einer Frau macht, die eigene, tief empfundene Identität und somit etwas, das nur der betreffende Mensch selbst wissen kann. Dies ist eine radikale, ontologische Behauptung, die grundlegende Fakten der Biologie negiert beziehungsweise biologische Tatsachen wie soziale Konstrukte behandelt. In ihrem Buch geht Stock den intellektuellen Wurzeln dieser Theorie nach, nimmt mehrere Faktoren unter die Lupe, die ihren raschen politischen Erfolg erklären könnten, und befasst sich mit deren Folgen nicht nur für die Rechte der Frauen, sondern auch für unsere gemeinsam geteilte Realität. Sie greift zahlreiche Argumente von Gender-Aktivistinnen und -aktivisten (sowie aktivistischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) auf und entkräftet eines nach dem anderen („selbst das biologische Geschlecht ist nicht binär“, „die Geschlechter sind sozial konstruiert“, „die Verwendung des Wortes Frau für weibliche Erwachsene reduziert Frauen auf ihre biologischen Merkmale“, „Transpersonen weisen höhere Selbstmordraten auf“ usw.).
Meinungsfreiheit schließt nicht aus, dass die eigene Meinung kritisiert werden darf.
Der Aufschwung der Rechten in ganz Europa und ihre Anti-LGBT+-Propaganda sind für die Debatte über diese Fragen eine echte Herausforderung. In vielen Ländern, darunter auch in meinem Heimatland Ungarn, werden Minderheiten – sexuelle und geschlechtliche Minderheiten eingeschlossen – zunehmend stigmatisiert und nicht mehr als Angehörige der nationalen Gemeinschaft anerkannt. Diese Entwicklung führt dazu, dass der Diskurs auf Seiten der Progressiven verflacht und alles auf das Gegensatzpaar „Gut gegen Böse“ reduziert wird. Dies darf jedoch nach Stocks Meinung nicht dazu führen, dass durchaus notwendige Diskussionen tabuisiert und die Komplexität und die Folgen vermeintlich emanzipatorischer politischer Forderungen verkannt werden.
Es gibt noch viel Forschungsbedarf, um zu verstehen, „wie es dazu gekommen ist“ – das heißt: zu dieser, wie Stock es nennt, „ideologisch motivierten politischen Vereinnahmung“. Einer der Gründe ist sicherlich der von ihr beschriebene Einfluss von Wissenschaftstheorien auf diese Art von Aktivismus. Eine andere plausible Erklärung könnte sein, dass die Progressiven aufgrund der langen Unterdrückung homosexueller Menschen auf der Hut sind, damit sie nicht denselben Fehler machen, sondern den Forderungen des Trans- und Queeraktivismus das gleiche Recht gewähren, wie der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Anziehung.
Die Begriffe „Frau“ und „Mann“ (also erwachsene weibliche oder männliche Menschen) beruhen zwar auf kognitiven Unterscheidungen, aber implizieren Stock zufolge keine normative Hierarchisierung und auch keinen biologischen Determinismus. Wenn jedoch (und darum geht es politisch) diese Differenzierung als Ausgrenzung im normativen Sinn oder als Hass bezeichnet und manchmal sogar mit Faschismus verglichen wird, dann wäre jedes Mittel gerechtfertigt, um dies zu stoppen. Dann kann jeder und jede, der oder die sich durch diese Sichtweise unterdrückt fühlt, sich berechtigt sehen, alle verfügbaren Mittel einzusetzen – Mobbing, Deplatforming, Versuche, jemanden aus dem Amt zu drängen –, denn dann ist dies lediglich Notwehr und ein Kampf gegen ein ungerechtes System.
Viele Linke sind der Auffassung, dass die Cancel Culture ein von den Rechten erfundenes Konzept ist. Eines ist sicher: Meinungsfreiheit schließt nicht aus, dass die eigene Meinung kritisiert werden darf. Doch gerade die Art und Weise, wie Stock in den vergangenen Jahren und insbesondere seit der Veröffentlichung ihres Buches angegangen wurde, zeigt, dass es dieses Phänomen in der Linken durchaus gibt und dass es ernst genommen werden muss. Die Lage ist heikel, denn niemand in der Linken möchte als rechts abgestempelt werden und noch weniger als nützlicher Trottel für die Rechten dastehen. Doch wir sollten uns den nötigen Freiraum verschaffen, um diese dringend erforderlichen Debatten zu führen, bevor die Rechten den gesamten Diskussionsraum für sich vereinnahmen. Stocks Buch lädt uns auf besonnene und kluge Weise dazu ein, genau dieses Ziel ins Visier nehmen – und es zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, empathisch gegenüber Minderheiten zu sein und gleichzeitig haltlose Argumente und Praktiken, die Schaden anrichten, zu entlarven.
Dieser Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung der in der Progressive Post (Ausgabe 18, S. 62-64) veröffentlichten Rezension.
Aus dem Englischen von Christine Hardung