Der Grexit wurde in der langen Verhandlungsnacht der EU zum 13. Juli 2015 in Brüssel noch einmal knapp verhindert. Gleichwohl hat der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer Recht, die deutsche Verhandlungsführung unter Merkel und Schäuble als „Fatale Entscheidung für ein deutsches Europa“ zu werten. Die von Finanzminister Schäuble betriebene Alternative für Griechenland hieß: entweder Austritt aus der Eurozone oder die Akzeptanz eines Programms, welches das Land faktisch zu einem europäischen Protektorat macht mit wenig Aussicht auf wirtschaftliche Besserung. Die Alternative –europäisches Deutschland oder deutsches Europa –wurde jüngst in jener langen Brüsseler Nacht zulasten des europäischen Deutschlands und zugunsten eines deutschen Europas entschieden, so Fischer. Den fatalen Fahrplan dorthin schrieb nicht nur der Ökonom Professor Hans-Werner Sinn mit seiner Forderung nach Grexit; womöglich war der kurz zuvor erschienene Essay des Politologen Herfried Münkler viel entscheidender.

Mit „Macht in der Mitte“ hat der FU-Professor Münkler einen gefährlichen, aber auch faszinierenden Essay verfasst. Münkler formuliert präzise und knapp genug, das Lesevergnügen bleibt hoch. Die europäische Geschichte wird einprägsam in Erinnerung gerufen, um die denkbare Zukunft der Europäischen Union zu erörtern. Die innereuropäischen „Trenn- und Spaltungslinien“ – Ost-West; Nord-Süd; kulturell; sprachlich; religiös; wirtschaftlich – werden vom Autor besonders mit der Elle des „karolingischen Europa“ (also dem Europa der Sechs aus den Anfangsjahren der EWG) vermessen. Die verschiedenen Erweiterungsrunden haben nach Münkler die Gefahr der imperialen „Reichsteilung“ wegen des „imperial overstretch“ verschärft. Diese Begriffe tauchen wiederholt auf, ohne empirisch gestützt zu werden. Die Eurokrise und die damit verbundene Diskussion einer drohenden Spaltung in harte Nordeurozone und weiche Südeurozone stellen den aktuellen Bezug.

Aus Münklers Annahme, Europa drohe sich zu teilen, folgt die Kernfrage des Essays: Wie kann Europa zusammengehalten werden, und welche Aufgabe kommt Deutschland dabei zu? Münklers Antwort: Als „Macht in der Mitte“ hat Deutschland eine zentrale Rolle. Das ist mehr als es das Solidaritätsprinzip zulassen mag: Das starke Wirtschaftszentrum der Eurozone profitiert zwangsläufig vom Wegfall der änderbaren Währungsparitäten und sollte die schwache Peripherie dafür kompensieren – so schon Herbert Giersch in seiner frühen Analyse von 1949 der späteren Eurozone. Eine zentrale Rolle Deutschlands als Führungsmacht Europas ist auch mehr, als es Europas historische Erfahrung mit einer zerstörerischen und isolierten „Macht in der Mitte“ zulassen kann.

Alternative Visionen des europäischen Integrationsprozesses werden vom Autor ohne inhaltliche Auseinandersetzung desavouiert oder ignoriert. Der Vorschlag etwa von Jürgen Habermas (2011), von Münkler fast verächtlich als „europaaffinen Intellektuellen“ kategorisiert, die weitere Entwicklung des europäischen Projekts an der US-amerikanischen Verfassung orientieren zu wollen, wird als ´abwegig´ weggewischt. Joschka Fischer wird schlicht ignoriert. Wohl nicht zufällig: Die Rolle, welche Münkler Deutschland in Europa zuweist, ist größer, als es das von Fischer propagierte Schweizer Konföderationsmodell vorgibt. Auch die Schweiz hat in einem Jahrhundert trotz ihrer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Heterogenität zu einer politischen Einheit mit starken Subsidiaritätselementen zusammengefunden.

Politologe Münkler ist kein Experte auf dem Gebiet der Makroökonomie und dem volkswirtschaftlichen Kreislauf. Das führt zu Fehleinschätzungen:

Der Begriff Hegemonie wird definiert ohne präzise Absetzung vom Begriff der Führungsnation. Die Lektüre der Werke von Charles Kindleberger, der die Aufgaben des gutwilligen, solidarischen Hegemon zur Legitimierung seines Führungsanspruchs definiert hat, hätte Münkler den deutschen Führungsanspruch vorsichtiger formulieren lassen, wenn er ihn nicht ganz unterlassen hätte. Kappel und Reisen haben 2015 kurz vor Erscheinen des Essays von Münkler aufgezeigt, dass Deutschland gerade in der Eurozone bei der Bereitstellung globaler öffentlicher Güter versagt hat. So hat Deutschland die Schaffung der institutionellen Voraussetzungen für eine funktionierende Währungsunion – Fiskal- und Bankenunion; gemeinsamer Markt für Staatsanleihen – aktiv torpediert.

Münkler verkennt auch Deutschlands destabilisierenden Einfluss in der Eurozone. Der Export von Lohndruck und Sozialabbau über einen Leistungsbilanzüberschuss von derzeit 8 Prozent des BIP disqualifiziert Deutschland für die eingeforderte Rolle als „Ausgleicher und Balancier“. Solche makroökonomischen Einsichten allerdings verschließen sich dem Merkantilisten Münkler, der die EU im globalen Wettstreit mit den anderen Blöcken sieht.

Die mangelnde Kenntnis der Währungspolitik offenbart sich auch mehrfach bei der Verballhornung der Troika, welche Griechenlands Wirtschaftspolitik zu überwachen beauftragt war. So hatte die Weltbank dort gar keine Aufgabe, wie Münkler fälschlich behauptet.

Die Eurokrise wird von Münkler auf eine Verschuldungs- und „Fiskalkrise“ Südeuropas verkürzt, die destabilisierende Wirkung deutscher Wettbewerbsfähigkeit und Exportrekorde nicht gesehen. Folgerichtig bringt Münkler auch kein Verständnis für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben (2013), der Lateineuropa und Nordeuropa in einem kulturellen Gegensatz sieht, der sich nicht durch Anpassungsleistungen aufheben lässt. Für Münkler gibt es keinen Zweifel, wer die Anpassung zu leisten hat: der schwache Süden Europas, den er alleine einem Reformdruck ausgesetzt sieht.

Der Essay ist trotz der ökonomischen Kritik lesenswert, da er einen Beitrag zur Definition des künftigen Integrationskurses in Europa liefert, der historische und politische Überlegungen liefert, wie man sie selten in solch spannender und kompakter Form lesen kann. Dennoch warte ich auf ein ähnliches Buch, welches Fischers Hinweis auf die Geschichte der Schweizer Konföderation und Kindlebergers Pflichtenheft für einen solidarischen gutwilligen Führungsanspruch aufgreift.

Vor uns liegt die Auseinandersetzung über die Eurozone als Transferzone. Wie bereits von Giersch (1949, op.cit.) standorttheoretisch gezeigt, kommt der wirtschaftliche Zusammenschluss in einer Realwirtschaft (also einer Währungsunion) dem starken Zentrum zugute, während die wirtschaftlich rückständigen Randzonen durch diesen Zusammenschluss dauerhaft belastet werden. Es genügt also nicht, wie Münkler und andere konservative Stimmen (etwa Geppert, 2013 und Hüther, 2015) es tun, eine Transferunion mit Hinweis auf die fehlende europäische Identität abzutun. Wer A will, muss auch B akzeptieren: Will Deutschland als zentraler Standort der Eurozone auf Dauer von den vielfachen Erträgen der Eurozone profitieren, muss es auch dauerhafte Transfers leisten. Die Höhe dieser Transfers (womöglich 5 Prozent des BIP, denn in dieser Höhe belief sich der private Nettokapitalexport Deutschlands vor der Eurokrise) müssen volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen befinden. Es ist die Aufgabe der Politik, diese Analysen dem Wähler plastisch zu vermitteln.