Europa und die Welt befinden sich im Umbruch. Die „Pax Americana“ scheint zu Ende zu gehen und die Sicherheits- und Friedensordnung Europas ist zerfallen. Nach Jahrhunderten westlicher Dominanz verschiebt sich das weltweite Machtgleichgewicht zwischen den Staaten dramatisch. Die globale Ordnung ist spannungsreich und gefährlich: Dies zeigen die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, der strategische Wettbewerb zwischen China und den USA, der Rückgang der Globalisierung, die Klimakrise, die Folgen der Pandemie, die Entwicklung neuer Technologien sowie der Wandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Angesichts der steigenden Zahl und parallelen Verflechtung multipler Krisen sprach der Historiker Heinrich August Winkler kürzlich in einem Interview im Handelsblatt sogar von einer „Weltkrise“.
Die Welt befindet sich derzeit in einem Interregnum – einem Übergang zwischen zwei Ordnungen. Das ist nicht unbedingt neu. Statt einer kooperativen und liberalen Weltordnung, erleben wir die Rückkehr von klassischer Machtpolitik und Interessensphären sowie die sukzessive Erosion internationaler Regelwerke und Normen. Noch bleibt ungewiss, wie die im Entstehen begriffene neue Weltordnung im Einzelnen aussehen wird. Doch eines ist sicher: Wir stehen an einem Wendepunkt der Weltgeschichte und die Entscheidungen, die wir als internationale Gemeinschaft heute treffen, werden maßgeblich das Schicksal der künftigen globalen Ordnung bestimmen.
Wir stehen an einem Wendepunkt der Weltgeschichte.
Dies wirft einige wichtige strategische Fragen auf: Wie wird sich die globale Machtverteilung in den nächsten Jahrzehnten verändern? Welche Länder können in Zukunft als dominierende Welt- und Regionalmächte gelten? Welche Regeln werden das Zusammenleben von Staaten bestimmen? Welche Gefahren und Chancen sind mit dieser neuen Ordnung verbunden?
Mit diesen und weiteren Fragestellungen hat sich Herfried Münkler in seinem Buch Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert eingehend beschäftigt. In seinem neuesten Werk entwirft der Politikwissenschaftler in Anlehnung an Henry Kissinger ein theoretisches Weltordnungsmodell in Form einer Pentarchie als das wahrscheinlichste Zukunftsszenario. Seiner Auffassung nach ist die liberale Ordnung mit dem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes und dem russischen Überfall auf die Ukraine endgültig zu Ende gegangen. Münkler betont, dass eine unipolare Ordnung eines „Hüters“ bedarf, der universelle Werte und Normen weltweit garantiert und durchsetzt. Jedoch sind die USA spätestens seit der Wahl Donald Trumps nicht mehr gewillt oder kapazitativ in der Lage, dauerhaft als Ordnungsmacht aufzutreten und globale öffentliche Güter bereitzustellen. Auch die Vereinten Nationen haben sich letztendlich bei der Bewältigung großer Menschheitsaufgaben als zu handlungsunfähig beziehungsweise als „zahnloser Tiger“ erwiesen, so der Autor. Das weitgehend westliche Projekt der „Einen Welt“ mit einem umfassenden Regelwerk, starker Wertebindung und offenem Weltmarkt wird von Münkler folglich vorerst als gescheitert betrachtet.
Fünf dominante Mächte bilden gemeinsam ein sogenanntes „Direktorium der globalen Ordnung“.
Anstelle einer Ordnung universaler Werte und Normen mit einem „Hüter“ als Zentralmacht organisiert sich in Münklers Modell die Weltordnung künftig über fünf Machtzentren mit eigenen Einflusszonen und konkurrierenden Wertesystemen. Zu den großen fünf Weltordnungsmächten des 21. Jahrhunderts gehören demnach die beiden rivalisierenden Supermächte USA und China, die Europäische Union, Russland und das mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Welt, Indien. Diese fünf dominanten Mächte bilden gemeinsam ein sogenanntes „Direktorium der globalen Ordnung“. Daran schließt sich eine zweite (sowie eine dritte und vierte) Reihe von Staaten an, um deren Gunst und Unterstützung die großen Fünf wetteifern, um ihren Einfluss zu maximieren. Insbesondere die Länder des Globalen Südens sind in diesen Reihen vertreten, darunter Brasilien, Indonesien und Südafrika – also genau jene Staaten, mit denen Bundeskanzler Olaf Scholz bereits seit seinem Amtsantritt erfolgreich neue und vertiefte Formen der Zusammenarbeit anstrebt, wie beispielsweise beim G7-Gipfel in Schloss Elmau im Juni 2022 oder in seiner Rede vor den Vereinten Nationen im vergangenen Jahr.
In dem von Herfried Münkler konzipierten multipolaren „System der Fünf“ steht das demokratische Lager, angeführt von den USA und der EU, einem autokratischen Block gegenüber, der von China und Russland dominiert wird. Indien fungiert dabei als ausbalancierende Macht beziehungsweise als „Zünglein an der Waage“ – eine Rolle, die historisch betrachtet lange Zeit von Großbritannien im europäischen Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts eingenommen wurde. Münkler schließt nicht aus, „dass sich im Hintergrund der Pentarchie eine bipolare Konstellation auf Grundlage des Gegensatzes von demokratischen Rechtsstaaten und autoritären Regimen entwickelt“, betont jedoch, dass dies nicht mit der bipolaren Konfrontation des Kalten Krieges verwechselt werden sollte. Die Polmächte entwickeln in ihren Einflusszonen zwar unterschiedliche Regelsysteme und Werteordnungen, doch Münkler unterstreicht, dass er eine „starre Wertekonfrontation“ zwischen den Blöcken für unwahrscheinlich hält und eine „partielle Kooperation über die Blockbildung hinweg“ für möglich erachtet. Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch eine wechselseitige Anerkennung innerhalb des Clubs der Weltmächte.
Ein weiterer entscheidender Faktor für die Stabilität dieses Modells ist das bereits erwähnte „Zünglein an der Waage“. Als ausgleichende Balancemacht zwischen beiden Blöcken trägt sie „die größte Verantwortung für den Fortbestand des Systems“. Der Autor weist darauf hin, dass historisch gesehen das Scheitern von Pentarchien oft auf ein Versagen des Gleichgewichtsmechanismus zurückzuführen ist. In dem vorgestellten Modell übernimmt Indien als Repräsentant des Globalen Südens die wichtige Rolle als ausgleichende Macht. Dabei wird besonders deutlich, wie eng Münklers Vorstellung einer künftigen Weltordnung mit der gegenwärtigen geopolitischen Lage und insbesondere dem Krieg in der Ukraine („dem Zankapfel bei der Formierung der neuen Weltordnung“) verknüpft ist. Im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine kommt Indien, das enge Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu Russland unterhält, naturgemäß die Rolle der ausgleichenden Macht zu. Die große Frage ist jedoch, ob Indien diese Rolle auch im strukturellen Konflikt zwischen China und den USA übernehmen kann, besonders da Indien als zweite aufstrebende asiatische Weltmacht selbst im Wettbewerb mit China steht. Möglicherweise müsste dann eine andere Macht die Funktion des „Züngleins an der Waage“ übernehmen – vielleicht sogar eine, die bisher noch nicht den großen Fünf angehört?
Das Buch dient zugleich als Mahnung an den Alten Kontinent.
Münkler betont in seinem Buch nachdrücklich, dass ein „Stühlerücken“ innerhalb seines Weltordnungsmodells einer Pentarchie durchaus möglich ist – „von der Spitze bis zum unteren Ende kann sich die Besetzung der Plätze ständig ändern“. Das Buch dient somit zugleich als Mahnung an den Alten Kontinent, denn der Platz Europas als Mitglied des Direktoriums in der zukünftigen Weltordnung ist keineswegs gesichert. Die Europäische Union muss sich „aus einem umtriebigen Regelgeber und Regelbewirtschafter in einen machtpolitisch handlungsfähigen Akteur“ verwandeln. Hierfür sind dringend umfassende institutionelle Reformen sowie ein Ausbau der EU erforderlich – insbesondere die Abschaffung des Vetorechts und eine Ausweitung der Gemeinschaftsmethode.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seinen wegweisenden europapolitischen Grundsatzreden in Prag und in Straßburg bereits bedeutende Impulse für die Neugestaltung der Europäischen Union präsentiert. Dabei setzte er sich nachdrücklich für eine geopolitische, erweiterte und reformierte Europäische Union ein. Der russische Überfall auf die Ukraine und eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps im November dieses Jahres sollten uns Europäern als eindringlicher Weckruf dienen, der uns dazu ermutigt, verstärkt nach strategischer Souveränität zu streben. Die EU kann in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts nur erfolgreich bestehen, wenn es ihr gelingt, die Einheit Europas zu vollenden und der Rückkehr von Machtpolitik und Interessensphären mit einem eigenständigen Modell zu begegnen.
In seinem Buch unterstreicht Münkler zudem, dass auch der Platz anderer Großmächte im Weltordnungsdirektorium, insbesondere Russlands, keineswegs in Stein gemeißelt ist. Seine Modellannahme steht letztlich unter dem „Vorbehalt des Ungewissen“ – vieles lässt sich gegenwärtig noch nicht mit Gewissheit vorhersagen, wie er selbst mehrfach erwähnt.
Ob sich das System einer Pentarchie letztendlich als tragfähige und stabile Weltordnung etablieren kann, bleibt abzuwarten.
Dennoch ist Münkler überzeugt, dass eine multipolare Ordnung das Optimum sei, „was unter den sich abzeichnenden Konstellationen der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich ist“. Ob sich das System einer Pentarchie letztendlich als tragfähige und stabile Weltordnung etablieren kann, bleibt abzuwarten. Der Autor weist in seinem Werk zwar zu Recht darauf hin, dass „die multipolaren Systeme Europas eine auffällige Neigung zu Fünfer-Konstellationen“ aufweisen. Allerdings fehlen genau diese Erfahrungen Mächten wie China, die in ihrer Geschichte nur begrenzt mit multipolaren Systemen und Pentarchien in Berührung kamen. Es ist ebenso wichtig zu bedenken, dass die letzte europäische Pentarchie im Ersten Weltkrieg endete. Daher ist auch heute ein stabiles Fundament internationaler Regelwerke und gemeinsamer Institutionen unerlässlich, um einen unkontrollierten Wettbewerb und Eskalationsprozesse zu verhindern. Völkerrecht, Rüstungskontrolle sowie internationale und regionale Organisationen müssen neben potenziellen Gestaltungsmächten erhalten bleiben und fortentwickelt werden.
In Zeiten großer globaler Veränderungen und Spannungen erweisen sich Bücher wie Münklers Welt in Aufruhr als äußerst sinnvoll, um die gewaltigen Umbrüche unserer Zeit besser zu verstehen und einordnen zu können. Sein Buch gewährt nicht nur einen Ausblick auf die Zukunft der globalen Machtstrukturen, sondern bietet auch eine tiefgehende Reise durch die Gedankenwelten einiger der bedeutendsten politischen Denker. Münkler verwebt sein Modell einer Pentarchie geschickt mit den Ideen von Thukydides, Machiavelli, Clausewitz und Carl Schmitt, wodurch er nicht nur eine zeitgemäße Analyse liefert, sondern auch historische Perspektiven in den aktuellen Diskurs einbettet. Im theoretischen Teil des Buches liegt allerdings auch eine der wenigen Schwächen seiner Analyse, da er ausschließlich auf westliche Denker zurückgreift, obwohl die sich entwickelnde Weltordnung des 21. Jahrhunderts vermutlich so wenig „westlich“ sein wird wie seit vielen Jahrhunderten nicht mehr.
Insgesamt ist Münkler mit Welt in Aufruhr ein beeindruckendes Werk gelungen, welches nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch eine wertvolle Grundlage für Diskussionen und strategische Überlegungen über die Zukunft der internationalen Ordnung bietet.