Angesichts des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben viele das Gefühl, dass sie die Welt nicht mehr verstehen. Kaum einer hatte damit gerechnet, dass ein solcher Überfall im 21. Jahrhundert hier bei uns in Europa stattfinden würde. Unsere Einschätzung der Politik in Russland und unser Verständnis „des Ostens“ müssen wir wohl gründlich überdenken. Norbert Mappes-Niediek hat sein Buch Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht bereits 2021 vorgelegt. Den blutigen Krieg in der Ukraine hat auch er nicht vorhergesehen. Und Russland ist auch nicht explizit sein Thema. Aber sein 280 Seiten starkes Essay über das Verhältnis des europäischen Westens zum Osten kann dem Leser helfen, sich gedanklich zu orientieren.

Dabei geht Mappes-Niedieks sehr reflektiert ans Werk, er trägt uns keine steilen Thesen vor. Vielmehr möchte er ausloten, was den Westen vom Osten unterscheidet. Und damit begibt er sich zunächst in das Dickicht der Wahrnehmungen, der in unseren östlichen und westlichen Köpfen festgesetzten Bilder, Vorurteile und Stereotypen. Wir alle kennen das. Da gibt es viele lustige Anekdoten zu erzählen, und sei es nur von Ossis und Wessis. So unterhaltsam dies ist, zum gegenseitigen Verständnis trägt es nur begrenzt bei. Mappes-Niediek möchte diese Klischees nicht auflösen und erklären. Er fragt sich vielmehr: Was müssen wir lernen, um uns in diesen festgesetzten Wahrnehmungen zu orientieren? Wer Europas geteilter Himmel liest, der findet eine Anleitung zur Orientierung im Europa der Trennungen, des Zusammenwachsens, der Widersprüche und Gemeinsamkeiten und der geteilten und gemeinsamen Zukunft. Eine Orientierungshilfe, keine Gebrauchsanweisung.

Wer Europas geteilter Himmel liest, der findet eine Anleitung zur Orientierung im Europa der Trennungen, des Zusammenwachsens, der Widersprüche und Gemeinsamkeiten und der geteilten und gemeinsamen Zukunft.

Für eine solche Orientierung muss man zuerst einmal einen Standpunkt einnehmen – aber keinen allzu festen. Beweglichkeit ist dabei entscheidend. Der Autor ist offensichtlich weitgereist – im Osten wie im Westen. Nach journalistischen Anfängen beim Vorwärts konzentrierte Mappes-Niediek sich seit den 1990er Jahren als Korrespondent schwerpunktmäßig auf Südosteuropa. Er schrieb für mehrere Zeitungen, vor allem für die Frankfurter Rundschau, und verfasste mehrere Bücher, in denen er dem deutschsprachigen Publikum die Entwicklungen in dieser Region näherbringen will. Als Berater des VN-Sonderbeauftragen für das ehemalige Jugoslawien und als Sprecher des Deutschen Bundestags hat er auch Erfahrungen im politischen Betrieb gesammelt. Mappes-Niediek ist ein sorgfältiger Beobachter und intimer Kenner der Länder Südosteuropas und Osteuropas. Sehr zum Vorteil des Lesers baut sein Buch weniger auf dem Durchwühlen von Statistiken, Archiven und wissenschaftlichen Quellen auf, sondern auf den Ergebnissen seiner jahrelangen journalistischen und politischen Arbeit.

Historisch, kulturell, politisch und sozial verfolgt der Autor die Kränkungen, die der Osten vom Westen erfährt. Er vermeidet es dabei, selbst in die Klischee-Falle zu tappen. „Den Osten gibt es natürlich nicht“, schreibt er, aber man könne Trennlinien ausmachen: „Wie die Höhenlinien auf einer Wanderkarte oder wie die Isobaren auf einer Wetterkarte bündeln sie sich an manchen Stellen. Dann erscheinen sie den Menschen diesseits und jenseits wie klare kulturelle Grenzen. Überzeitlich sind die Scheidelinien allesamt nicht, denn welches trennende Merkmal für wichtig gehalten wird und welches nicht, kann sich schnell ändern.“

Während im Westen Nation und Staat wie selbstverständlich zusammenfallen und gar mit einer historischen Mission verknüpft sind, hat sich die Nation im Osten gegen den Staat entwickelt.

Ein entscheidendes Merkmal für Mappes-Niediek sind dabei die unterschiedlichen Auffassungen von Nation und Staat. Während im Westen Nation und Staat wie selbstverständlich zusammenfallen und gar mit einer historischen Mission verknüpft sind, habe sich die Nation im Osten gegen den Staat entwickelt. Franzose oder Engländer zu sein, war nicht bloß ein zufälliges Merkmal, sondern ein universelles Bekenntnis. In Mittel- und Osteuropa hingegen, so Mappes-Niediek, ist mit der Nation kein universeller oder moralischer Anspruch verbunden. Die mittel- und osteuropäischen Nationen mussten sich vielmehr aus Imperien und Staatsideologien befreien, um zu existieren. Gegen den römisch-katholischen Kaiser in Wien, gegen die weltumspannende Mission des Sultans oder schließlich gegen den autoritären Sozialismus. Statt universellem Anspruch und einer eigenen Mission verlangen die osteuropäischen Nationen deshalb eine bloße Anerkennung ihrer Interessen, so der Autor. Universeller Anspruch auf der einen Seite, Anerkennung eigener Interessen auf der anderen: „Der eine führt sein Recht auf übergeordnete Grundsätze zurück. Der andere besteht einfach auf Parität.“ Im Falle der Eskalation führt das schnell zum Vorwurf von „Heuchelei“ auf Seiten des Westens und „Trotz“ im Osten. Diese Beobachtung haben viele mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ebenfalls gemacht.

Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und Transition Osteuropas, die Alltagskultur und die Rolle der orthodoxen Kirche verfolgt Mappes-Niediek diese Unterschiede in vielen Verästelungen und bringt dabei zahlreiche plastische Beobachtungen kenntnisreich zu Tage. Das ist erhellend und unterhaltsam zugleich. So beobachtet Mappes-Niediek den Ost-West-Unterschied beispielsweise auch im Alkoholkonsum und kommt zum Schluss: „Nicht im prinzipiellen Umgang mit der Droge, aber doch in der Intensität der Nutzung zeigt sich ein relativer Ost-West-Unterscheid.“ Und er wartet mit der überraschenden Beobachtung auf, dass die augenfälligsten Unterschiede – unseren Vorurteilen zum Trotz – gar nicht zwischen Osten und Westen, sondern zwischen dem europäischen Norden und Süden auszumachen sind. Da wirken sie auf unsere Wahrnehmung aber eher harmlos und sind vielfach in unsere Urteile schon eingepreist.

In der Auseinandersetzung mit den Gesellschaften Osteuropas müssen wir unsere eigenen Ansprüche auf die Probe stellen und hinterfragen.

Doch wie können wir diese nachgespürten Widersprüche einordnen und die dialektischen Abhängigkeiten besser verstehen? Wie sollen wir damit umgehen? „Wenn das Verhältnis [zwischen Ost und West] sich ändern sollte, müsste Europa sich neu erfinden,“ schreibt der Autor. Eine bloße Erweiterung des Westens auf den Osten könne nicht gelingen. Die Länder im Osten Europas seien eben keine defizitären Ausgaben westlicher Nationen. Sie haben eigene Sichtweisen und Identitäten. Deshalb sei jedes schulmeisterliche Auftreten fehl am Platze. In Auseinandersetzung mit den Gesellschaften Osteuropas müssten wir unsere eigenen Ansprüche auf die Probe stellen und hinterfragen. „Der Schlüssel zum Problem mit dem Osten liegt im Westen; Zeit, dass wir ihn dort suchen.“ Ein politisches Programm bietet der Autor uns nicht. Genau so wenig wie steile Thesen, hat er klare Schuldzuweisungen oder scharfe politische Forderungen in petto. Seine Beobachtungen sind sensibel und reflektiert. Sie können uns Orientierung geben bei der Suche nach einem neuen Verhältnis von Ost und West. Das ist angesichts der gegenwärtigen Verunsicherung viel Wert.