In den Debatten um die großen Herausforderungen unserer Zeit sind internationale Parteiennetzwerke kaum sichtbar. Wer den aktuellen Zustand der Sozialistischen Internationale (SI) kennt, staunt nicht schlecht, wenn er in Bernd Rothers Buch Sozialdemokratie Global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika nachlesen kann, welche Rolle dieser Zusammenschluss von Parteien in den 1970er- und 1980er-Jahren im Weltgeschehen spielte, insbesondere in Lateinamerika. Willy Brandt war zu dieser Zeit Präsident der SI und formte sie durch sein persönliches Engagement zu einer globalen Kraft, die eine Alternative sowohl zum amerikanischen Kapitalismus und als auch zum sowjetischen Kommunismus darstellen sollte.
Das Wirken Willy Brandts an der Spitze der SI findet in der Geschichtsschreibung im Vergleich zu seinen Jahren als Bundeskanzler und seiner Arbeit in der Nord-Süd-Kommission deutlich weniger Beachtung. Das Füllen dieser Lücke war Bernd Rothers ursprüngliches Motiv für das Buch. Was als biografische Studie über einen wichtigen Lebensabschnitt Willy Brandts begann, wurde letztlich zu einem Werk über die Sozialistische Internationale und Lateinamerika. Dort war die SI im Vergleich zu Afrika und Asien besonders aktiv.
Als Präsident der SI formte Willy Brandt sie durch sein persönliches Engagement zu einer globalen Kraft, die eine Alternative sowohl zum amerikanischen Kapitalismus und als auch zum sowjetischen Kommunismus darstellen sollte.
Bernd Rother, Historiker und ehemaliger stellvertretender Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, identifiziert mehrere Gründe für die besondere Resonanz der SI in Lateinamerika und in der englischsprachigen Karibik. Da ist zunächst die Ähnlichkeit der Parteienstrukturen. Aber auch geostrategische Erwägungen spielten eine Rolle: Beide Regionen wollten damals neue internationale Beziehungen aufbauen, um sich von den USA zu emanzipieren, ohne sich dabei gegen sie zu stellen.
Rother betont, dass es damals nicht darum ging, was die europäische Sozialdemokratie für Lateinamerika tun könne. Das Interesse war beiderseitig, es war ein gleichberechtigtes Aufeinanderzugehen. Begünstigt durch internationale Entwicklungen wie die Schwächung der USA durch den Vietnamkrieg, die Ölpreiskrise von 1973 sowie die Diskreditierung von China und Russland aufgrund ihrer wohlwollenden Haltung gegenüber den Militärdiktaturen in Argentinien und Chile wuchs unter lateinamerikanischen Politikerinnen und Politikern der Wunsch, Beziehungen zu Westeuropa auf- und auszubauen. Sie sahen in der westeuropäischen Sozialdemokratie ein Vorbild, um Demokratie, Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. So ging die Initiative zur transkontinentalen Zusammenarbeit in den 1970er-Jahren insbesondere von Mexiko und Venezuela aus. Die Acción Democrática aus Venezuela galt in dieser Zeit als die Avantgarde einer neuen lateinamerikanischen Sozialdemokratie.
Ein weiterer Grund waren die damaligen Krisen und Konflikte in der Region. Besonders intensiv geht der Autor auf den Bürgerkrieg in El Salvador (1980–1991) sowie die Revolution in Nicaragua (1979) und die schwierige Suche nach dem richtigen Umgang mit der sandinistischen Regierung in Managua ein. Kein anderes Thema, kein anderes Land hat die SI in Willy Brandts Amtszeit so sehr beschäftigt wie Nicaragua, stellt Rother fest. Ein erneuter Erfolg der Sowjetunion wie in Kuba nach 1959 sollte in Mittelamerika unbedingt verhindert werden. Sozialrevolutionäre Bewegungen sollten sehen, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten an ihrer Seite stünden, wenn der Weg einer demokratischen Umwälzung nicht gangbar war, so Rother. Nicaragua entwickelte sich über die Jahre jedoch von der Hoffnung auf ein „demokratisch-sozialistisches Modell für die Dritte Welt“ – wie es damals noch hieß – zu einer autoritären Enttäuschung.
Die lateinamerikanischen Regierungen sahen in der westeuropäischen Sozialdemokratie ein Vorbild, um Demokratie, Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit in Einklang zu bringen.
Die SI war nicht von Beginn an global ausgerichtet. Nachdem Willy Brandt 1976 den Vorsitz übernahm, setzte er sich für eine Öffnung der SI über Europa hinaus ein. Die SI öffnete sich für Kräfte, die sowohl links als auch rechts der Sozialdemokratie standen, auch Demokratiedefizite wurden toleriert. Bernd Rother beschreibt, wie diese flexible Partnersuche mit Brandts Bekenntnis übereinstimmte, kein Modell exportieren zu wollen, weder politisch noch wirtschaftlich. Die SI ließ sich laut Rother unter Willy Brandt von dem Gedanken leiten, dass sie innerhalb eines nur vage definierten Spektrums demokratischer Reformkräfte mit allen kooperieren wollte, die ihrerseits dazu bereit waren – sofern die Partei in ihrem Land über Einfluss verfügte. Politischer Einfluss wurde höher bewertet als ideologischer Purismus.
Diese Flexibilität war eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt neue Mitglieder zu gewinnen, die einen gleichberechtigten Dialog mit den europäischen Kräften erwarteten, in den eigene Erfahrungen und Vorstellungen eingebracht werden konnten. Und durch die hohe Zahl an neuen Mitgliedern, die oftmals in ihren Ländern die Regierung stellten, wuchs das Gewicht der SI auf der globalen Bühne. Zwischenzeitlich stellte das US Department of State einen Fachmann für die SI ab und auch in der Sowjetunion befasste man sich mit dem neuen Phänomen.
Aber bereits zu Willy Brandts Zeiten führte diese „programmatische Überdehnung“ (Rother) zu internen Konflikten und Zerreißproben, insbesondere zwischen den französischen Sozialisten und der deutschen Sozialdemokratie. Sie rangen vor allem um die Bündniskonzeption der SI miteinander, wobei die Parti Socialiste für programmatische Eindeutigkeit plädierte.
Bereits zu Willy Brandts Zeiten führte die „programmatische Überdehnung“ der SI zu internen Konflikten und Zerreißproben.
Neben der Aufnahme neuer Mitglieder gab es noch zwei weitere Entwicklungen, die den Einfluss der SI vergrößerten: die Globalisierung und die Ausweitung internationaler Beziehungen auf nichtstaatliche Akteure und damit auch auf Parteien – auch außerhalb von Regierungsverantwortung. Rother spricht von einer „neue[n] Form internationaler Politik“, in der die Parteien als Akteure außerhalb von Regierungen zu einer „eigenständigen, grenzüberschreitenden Politik“ übergingen. Im sogenannten. Brandt-Report, dem Bericht der Nord-Süd-Kommission unter Willy Brandts Vorsitz, wurde dies auf die Formel gebracht: „Die Gestaltung unser aller Zukunft ist zu wichtig, um sie allein Regierungen zu überlassen.“
Mit dem Ende der Präsidentschaft von Willy Brandt 1992 endete auch der Höhenflug der SI. Dies verdeutlicht die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten, insbesondere Willy Brandts, für den Erfolg der SI. Laut Rother war die SI unter Willy Brandt weniger ein Bündnis von Parteien als ein Netzwerk von Persönlichkeiten. Weder Pierre Mauroy noch António Guterres, die ihm nachfolgten, vermochten es, die Ausnahmeerscheinung Brandt vollständig zu ersetzen. Als sich im Zuge der Revolutionen in Tunesien und Ägypten 2010 herausstellte, dass die bis dahin autoritär herrschenden Staatenlenker Teil der SI waren, zerbrach das Bündnis.
Mit dem Ende der Präsidentschaft von Willy Brandt 1992 endete auch der Höhenflug der SI.
Heute führt die SI ein Schattendasein. Auch der globale Einfluss der von der SPD mitgegründeten Progressive Alliance darf als eingeschränkt bezeichnet werden. Es hat eine gewisse Rückverlagerung in die Regionen eingesetzt. Auf europäischer Ebene bringt die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE/PES) die sozialistischen, sozialdemokratischen und demokratischen Parteien und Arbeiterparteien aus der ganzen Europäischen Union und Norwegen zusammen. In Lateinamerika hat sich mit der „Grupo de Puebla“ ein Netzwerk von Persönlichkeiten gebildet, die sich trotz aller Unterschiede unter dem Begriff „progressiv“ fassen lassen. Was fehlt, ist das Verbindungsstück zwischen den Kontinenten. Dabei mangelt es heute weder an begabten Politikerinnen und Politikern – auch die junge Generation ist stark aufgestellt – noch an Gründen für gemeinsame progressive Initiativen und eine internationale Parteiarbeit.