Chile ist ein Land im Aufruhr. Die Covid-19-Pandemie hat die ohnehin herrschende politische, gesellschaftliche und ökonomische Krise weiter verstärkt, weil die extrem privatisierten Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme die chilenische Bevölkerung besonders anfällig machen. Die Polizei wirkt wie ein Staat im Staate, sie schießt den seit Monaten protestierenden Bürgern straflos mit Gummigeschossen ins Gesicht; viele haben schon ihr Augenlicht verloren.
Immerhin haben die derzeit wegen der Krise untersagten Proteste gegen die Regierung von Sebastián Piñera ein Verfassungsreferendum erzwungen, das nun aber bis Ende Oktober 2020 verschoben wurde. Einstweilen verhängt die Regierung Notmaßnahmen, welche die prekäre Lage vieler Chilenen noch verschärfen, u.a. braucht man in manchen Stadtvierteln von Santiago selbst für einen schlichten Supermarkteinkauf eine polizeiliche Genehmigung, während es andererseits kaum soziale Unterstützungsleistungen gibt.
Die historischen Ursachen der zutiefst ungerechten Gesellschaft Chiles reichen bis in die Kolonialzeit. Heute wird die Tragödie der chilenischen Politik durch eine Elite verkörpert, die die eigene politische Machtposition, den sie begünstigenden Neoliberalismus und die damit verbundene strukturelle soziale Ungleichheit institutionell und kulturell perfekt abgesichert hat. Symbol dafür ist die Verfassung, aktuell schlimmster Ausdruck das privatisierte Gesundheitssystem, das nur den Privilegierten offensteht.
In der jüngeren chilenischen Geschichte gab es eine symbolträchtige Hoffnungsphase, die bis heute die Fantasie vieler progressiver Chilenen anregt: die Zeit zwischen der Wahl des sozialistischen Politikers Salvador Allende zum Präsidenten Chiles im September 1970 und dem von der CIA unterstützten Militärputsch, angeführt vom späteren Diktator General Augusto Pinochet, am 11. September 1973. Eben diese „Jahre von Allende“ thematisiert nun ein Comic der chilenischen Comic-Künstler Carlos Reyes und Rodrigo Elgueta, erschienen bei dem auf politische Literatur spezialisierten Wiener Bahoe Verlag. Die Autoren fragen nach Allendes konkreter Politik und nach den Gründen für den Putsch. Woran ist Allende gescheitert?
Heute wird die Tragödie der chilenischen Politik durch eine Elite verkörpert, die die eigene politische Machtposition institutionell und kulturell perfekt abgesichert hat.
Comics, die sich mit komplexen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen beschäftigen, haben es grundsätzlich ziemlich schwer. Wollen sie keine dröge Geschichtslektion sein, bedarf es meist einer tauglichen Rahmenhandlung mit geeigneten Identifikationsfiguren. Dafür aber braucht man Platz, um sowohl die fiktiven Charaktere als auch die jeweilige Thematik zu entwickeln. Trotz fast 150 Seiten (inklusive Anhang mit nützlichen historischen Erläuterungen) gelingt es hier nicht völlig überzeugend, aus der durchaus plausiblen Anwesenheit eines amerikanischen Journalisten während der 1 000 Tage Regierungszeit von Salvador Allende mehr zu machen als ein wackeliges Gerüst. Über weite Strecken fehlt tatsächlich fast jeder Bezug zur Rahmenhandlung; seine Beziehung zu einer linken Aktivistin und auch ein geheimnisvoller Informant werden nur gestreift. Zum Glück ist die Geschichte selbst spannend genug und tragfähig.
Wenn die meisten politischen Maßnahmen der Unidad Popular, des von Allende angeführten Bündnisses mehrerer Parteien, auch im weitesten Sinne als sozialdemokratisch bezeichnet werden können, so war es doch zwangsläufig, dass insbesondere die entschädigungslose Verstaatlichung der Rohstoffvorkommen (vor allem Kupfer) im Kontext des Kalten Krieges den Unmut der USA auf sich ziehen würden. Auch der Hass der Rechtsextremen und der reaktionären reichen Familien war wohl unvermeidlich, weil Allende versuchte, ihre Machtposition zu schwächen.
Unternehmerstreiks, Boykotte und damit verbundene Versorgungsengpässe waren die Folge. Hinzu kam die revolutionäre und teils gewalttätige Ungeduld vieler Linker, denen der stets die demokratischen Verfahren und den Rechtsprozess achtende Allende zu zahm war. Am Ende wurde Allende geradezu zwischen links und rechts zerrieben, und auch die Christdemokraten, die zunächst noch seine Wahl ermöglicht hatten, versagten ihm schließlich die Unterstützung.
Selbstverständlich kann der Comic von Reyes und Elgueta nur ein Einstieg sein. Die komplexen chilenischen Verhältnisse sind zu voraussetzungsvoll, als dass die Lektüre der „Jahre von Allende“ allein ein umfassendes Verständnis ergeben könnte, trotz der ausführlichen Anmerkungen. Aber vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen mit „Weimarer Verhältnissen“ und der derzeit vom erfolgreichen Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung nur überdeckten zumindest ähnlichen Konstellation einer scharfen politischen und gesellschaftlichen Polarisierung ist eine Auseinandersetzung mit dem Scheitern Salvador Allendes mehr als intelligente Unterhaltung – sie ist auch ein Lehrstück für unsere Zeit.