Die Identitätskrise Europas, der zunehmende Einfluss Chinas, Kommerz statt Kunst, Billigtourismus und globale Geschmacksnivellierung nach unten, Werteverlust allenthalben: Über all diese kulturellen Megatrends sind schon viele kluge Bücher geschrieben worden. Dem niederländischen Schriftsteller Ilja Leonhard Pfeijffer gelingt es jedoch, diese großen Themen unserer Zeit wie mit einem Brennglas auf rund 560 Seiten zu bündeln und in einem eindrucksvollen Panoramabild auszubreiten – und dies in Gestalt eines Romans.

Pfeijffer gestaltet dabei sein episches Werk genauso erschütternd wie unterhaltsam. Grand Hotel Europa ist ein literarischer Tanz auf dem Vulkan, dessen Kernbotschaft lautet: „Das gute alte Europa ist dem Untergang geweiht. Tut doch endlich ’was!“ Der Appell richtet sich an alle, die an geistiger Aufklärung, weitgehend kommerzfreier Kultur und einem selbstbestimmten Leben festhalten wollen. Diese Botschaft mag man schon einmal gehört haben, aber selten so eindringlich formuliert, so hautnah nähergebracht und vor allem so facettenreich. Romancier Pfeijffer führt uns das fatale Zusammenspiel verschiedener Wirkkräfte vor Augen – lustvoll schmerzhaft und schaurig schön zugleich.

Der Autor präsentiert ein Vexierbild, das sich auf den ersten Blick durch prachtvolle Vielfalt auszeichnet, in dem es bei genauerem Hinsehen aber an mehreren Stellen nicht stimmt.

Der Autor präsentiert ein Vexierbild, das sich auf den ersten Blick durch prachtvolle Vielfalt auszeichnet, in dem es bei genauerem Hinsehen aber an mehreren Stellen nicht stimmt. Dazu formt Pfeijffer zwei große und mehrere davon ausgehende kleinere Erzählstränge. Aus diesen flicht er seinen narrativen „Zopf“ äußerst kunstvoll zusammen, (fast) nichts wirkt konstruiert, alles fließt natürlich und erscheint authentisch, ja fast autobiografisch. Denn im Mittelpunkt des Geschehens steht Ilja Leonhard Pfeijffer höchstselbst, mal als Akteur, dann wieder als Beobachter. Offen bleibt allerdings, was Fakt ist und was Fiktion.

Wer auf die Innenseite des Buchumschlags schaut, meint, den Zweitplatzierten beim großen Frank-Zappa-Ähnlichkeitswettbewerb zu erblicken. Nur Platz zwei deshalb, weil der gut gereifte Autor (Jahrgang 1968) seine wallenden graublonden Haare mit Strähnchen versieht. Im Buch selbst stilisiert sich Pfeijffer passend dazu als Dandy alter Schule, der stets in vornehmen Anzügen, mit extravaganten Krawatten und erlesen parfümiert durch die Welt schreitet. Eine Welt, die aber nicht mehr die des europäischen Bildungsbürgers und Bohemiens ist, zumindest immer weniger.

Und so ist es auch nur folgerichtig, dass sich Pfeijffer in der Haut seines Hauptprotagonisten ins innere wie äußere Exil begibt. In Erzählstrang Nummer eins quartiert er sich im Grand Hotel Europa ein, um die Trennung von seiner – selbstredend 20 Jahre jüngeren – Freundin Clio literarisch zu verarbeiten. Es bleibt unklar, wo genau das Grand Hotel steht. Klar ist nur, dass es sich um einen alten Luxuskasten von morbidem Charme handelt. Dessen Tagesgeschäft leitet ein extrem altmodischer, aber aufrichtig und diskret agierender „Majordomus“, wie Pfeijffer ihn nennt. Der Erzähler trifft hier aber auch lauter andere illustre Gestalten, wie einen betagten Universalgelehrten, der ihm beim Dinner sehr erhellende Vorträge darüber hält, was Europa ausmacht. Er lernt dort auch eine exzentrische Dichterin aus Frankreich kennen und einen großspurigen, hedonistischen Reeder aus Griechenland. Quasi unvermeidlich in Pfeijffers Karneval der Kulturen ist auch eine kurze, aber heftige Begegnung mit einer US-amerikanischen Familie, deren Elternpaar genauso steinreiche wie spießige Klischee-Amis darstellen, während die junge Adoptivtochter den pinkfarbenen Albtraum an Abgebrühtheit und Ehrgeiz verkörpert.

Für seine Protagonisten kann Pfeijffer bei aller ironischen Distanz eine sanfte Sympathie empfinden. Ganz besonders gilt dies für den Hotelpagen Abdul. Der tischt zwar eine Lügengeschichte über seine Flucht aus einem afrikanischen Bürgerkriegsland auf. Der Erzähler setzt sich bei den staatlichen Autoritäten und der Hotelleitung erfolgreich dafür ein, dass Abdul dennoch bleiben darf – aus einem einfachen humanistischen Impuls heraus. Vom ersten Tag an ist der Erzähler zudem auf der Suche nach der uralten Ex-Eigentümerin des Hotels, die dort noch irgendwo ihre Gemächer haben soll und deren Geist im Hause weiterlebt. Erst als der Majordomus in Ehren offiziell ausgemustert wird, tritt die „alte Dame Europa“ plötzlich auf den Plan, stirbt dann aber genauso schnell, um mit großem Pomp zu Grabe getragen zu werden.

Genau darin liegt bei aller Themenvielfalt das Leitmotiv des Buches: im Massentourismus und in der aus Pfeijffers Sicht zweifelhaften Führungsrolle, die die Chinesen dabei übernehmen.

Denn das Grand Hotel Europa ist längst an einen chinesischen Magnaten verkauft worden, der das Hotel immer mehr nach den Wünschen ostasiatischer Touristen umgestaltet. Genau darin liegt bei aller Themenvielfalt das Leitmotiv des Buches: im Massentourismus und in der aus Pfeijffers Sicht zweifelhaften Führungsrolle, die die Chinesen dabei übernehmen – vor allem, wenn es darum geht, die Pilgerstätten (west)europäischer Kultur zu „überfluten“, mit Investitionskapital wie vor allem mit reiner Anwesenheit. Das kann man als Frontalattacke lesen, aber auch als Symbol für eine aus dem Ruder gelaufene Globalisierung.

Das China-Motiv spielt auch im zweiten großen Erzählstrang eine tragende Rolle. Einige Zeit vor seinem Check-in im Grand Hotel lernt der Ich-Erzähler in seinem damaligen Lebensmittelpunkt Genua die promovierte Kunsthistorikerin Clio kennen, die aus einer verarmten, dafür umso stolzeren Adelsfamilie stammt. Er folgt der jungen Diva nach Venedig, weil Clio dort einen akademischen Aushilfsjob antritt. Pfeijffer schildert die Stadt der 1000 Kanäle als Ort des Grauens, als trauriges Epizentrum eines Turbo-Massentourismus, der nur noch aus dem möglichst schnellen Orten, Sehen, Selfie schießen und damit Abhaken von Sehenswürdigkeiten besteht. Die Touristen strömen aus aller Herren Länder nach Venedig, am radikalsten frönen aber die Chinesen diesem „Abhak“-Tourismus. Sie stehen zugleich als Repräsentanten für alle Nicht-Europäer aus aufstrebenden Ländern und Erdteilen, die den alten Kontinent zunehmend nur noch als leicht angestaubtes, aber putziges monumentales Freilichtmuseum betrachten – während wir Europäer dies so überhaupt nicht begreifen können oder wollen.

Wenn sich der Erzähler mit Clio auf eine detektivische Suche nach einem verschwundenen Bild des Barock-Malers Caravaggio begibt, wird überdies deutlich, dass auch die europäische Kulturhistorie ihre tiefen Abgründe aufweist. Im Zuge dieses Mini-Krimis reist Pfeijffer mit seiner Clio noch an weitere Schauplätze Europas, wobei nicht nur die damit verbundenen Exkurse und Exkursionen in die europäische Kunstgeschichte spannend sind, sondern auch immer mehr Spannung in der Beziehung zwischen den beiden Liebenden entsteht. Die kapriziös-exzentrische Freundin verlässt schließlich ihren altersbedingt nicht mehr ganz so wendigen Freund, um ein unwiderstehliches Jobangebot in einer weitgehend kulturfreien Zone anzunehmen. Dieser Ort befindet sich allerdings wohlgemerkt nicht im Fernen Osten. Das Ende des Buches gibt der Geschichte dann aber doch nochmal einen überraschenden Dreh – einen sehr menschlichen und zugleich doch menschlich enttäuschenden.

Grand Hotel Europa polarisiert ohne Frage.

Grand Hotel Europa polarisiert ohne Frage. Manche mögen das Buch als Manifest der Sinophobie brandmarken. Manche mögen das Traktat als schnöden, überkommenen Kulturelitismus abtun, vielleicht sogar als kulturimperialistisch. Wieder andere könnten Anstoß an den teils heftigen Sexszenen nehmen und diese als testosterongesteuerte Machismo-Fantasien eines alten weißen Mannes kritisieren. Und einigen mag das mit Symbolismus aufgeladene Szenarium allzu dick aufgetragen sein, zumal wenn sie obendrein auch noch Probleme mit der teils beißenden Ironie des manchmal etwas selbstgefällig schwadronierenden Autors haben.

Und dennoch: Der Roman wirkt durchweg inspirierend, und er ist auch nicht dumpf plakativ. Vielmehr ist er meisterhaft erzählt, äußerst handlungsstark und zugleich doch immer wieder von seitenlangen Passagen durchbrochen, die essayistischen Charakter haben. Dabei legt Pfeijffer seinen Protagonisten keine Lösungsvorschläge in den Mund, das ist auch nicht die Aufgabe von Literatur. Aber man kann sich hervorragend an seinen lustvollen Provokationen reiben – oder ihnen einfach nur Applaus spenden. Der Autor stößt nicht in das Horn eines konservativ-reaktionären Kulturpessimismus. Wohl aber zeigt er deutlich auf, welche zivilisatorischen Errungenschaften auf dem Spiel stehen. Analog zur Klimapolitik könnte man sagen, dass Pfeijffer vor drohenden kulturellen Kipppunkten warnt.

In den Niederlanden rangierte Grand Hotel Europa direkt nach seinem Erscheinen ein halbes Jahr an der Spitze der Bestseller-Liste. Hierzulande sind die Reaktionen auf das Buch bislang eher verhalten ausgefallen. Dies ist einerseits verwunderlich, andererseits auch symptomatisch. Denn auf lange Sicht könnte sich „GHE“ als epochales Werk herausstellen, das eine Zeitenwende in der Geschichte Europas in Form eines Romans dokumentiert und vorhergesagt hat. Und zum Untergang gehört vor der ersten Panik und der schlussendlichen Resignation ja auch immer die anfängliche Verdrängung.