Über Indien hört und liest man in unseren Medien deutlich weniger als über China, obwohl es mit 1,4 Milliarden Menschen das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt ist. Gelegentlich dringt das Narrativ der Regierung durch, Indien sei die größte Demokratie der Welt. Manchmal werden für unser Empfinden haarsträubende Berichte über das noch immer virulente Kastenwesen veröffentlicht. Und als im Frühjahr das Gesundheitswesen unter der Last der Corona-Kranken kollabierte und Menschen vor den Krankenhäusern erstickten, fand Indien auch in unseren Nachrichten statt. Sonst hört man über die wirtschaftliche und politische Entwicklung wenig.
Arundathi Roy, die bekannteste lebende indische Schriftstellerin, hat mit AZADI heißt Freiheit ein Buch vorgelegt, das das Bild von der größten Demokratie als Propaganda der Regierung Modi entlarvt. Anders als Der Gott der kleinen Dinge, in 48 Sprachen übersetzt und 1997 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet, ist dieser Band kein Roman. Er enthält politische, literarisch durchaus anspruchsvolle Essays über die heutige Situation Indiens. Der englische Originaltitel AZADI. Freedom, Fascism, Fiction beschreibt die Themen genauer. Die zehn Essays, zwischen 2018 und 2021 in Zeitungen wie der New York Times, dem Guardian und der Financial Times erschienen oder als Vorträge an Universitäten gehalten, enthalten eine beißende Kritik an der Unterdrückung der freien Meinung in Indien, der vielen Journalisten im Gefängnis, der spalterischen, hindu-nationalistischen Politik der Modi-Regierung und an dem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ der indischen Politik im Angesicht der Corona-Katastrophe.
Arundathi Roy entlarvt das Bild von Indien als der größten Demokratie der Welt als Propaganda der Regierung Modi.
Als Aktivistin, die in ihren politischen Essays Missstände anprangert, muss die Schriftstellerin Roy um ihr Leben fürchten. Immer wieder kehrt sie zu drei Themen zurück, die sämtlich mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun haben: das Kastenwesen, das unter der jetzigen Regierung traurige Urstände feiert; die Unterdrückung von Minderheiten, vor allem der Moslems in Kaschmir, aber auch im übrigen Indien; sowie aktuell der Umgang mit der Pandemie.
Die Kasten, nach der Verfassung Indiens längst nicht mehr existent, haben in der Gesellschaft immer eine zentrale Bedeutung behalten – bei der Bildung, bei der Berufswahl, ebenso bei der Wahl des Partners oder der Partnerin. Sie sind, wie Roy schreibt, die „Fortsetzung der brahmanischen Tradition, all jenen Menschen, die sie als »Shudras« und »Ausgestoßene« bezeichnen, den Zugang zu Bildung und Literatur zu verweigern – oder einfach nur das Recht abzusprechen, Wissen zu erwerben und Wohlstand zu erreichen.“ Im Brahmanismus herrscht die Vorstellung, dass einige Menschen durch göttlichen Auftrag von Natur aus überlegen und andere unterlegen sind. Der Gedanke an die „Herrenrasse“ ist naheliegend. Und genau in dieser faschistischen Idee hat der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), der militante Arm der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP), seine Wurzeln. Seit der Gründung in den 1920er Jahren, damals Mussolinis Schwarzhemden nachempfunden, verfolgen der RSS und auch Modis BJP die Ideologie des „Hindutva“. Sie betonen Indiens Größe und Einmaligkeit; nur Hindus sind aus ihrer Sicht vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Diese Ideologie ist das Gegenteil von Gandhis und Nehrus idealistischer Version eines säkularen und multikulturellen Indiens. Konzepte wie Gleichheit und Liberalität haben darin keinen Platz.
Die hinduistische Überlegenheitsideologie des „Hindutva“ ist das Gegenteil von Gandhis und Nehrus idealistischer Version eines säkularen und multikulturellen Indiens.
Arundathi Roy bezeichnet den RSS, in dem auch Modis politische Karriere begann, als rechtsextrem, protofaschistisch und als die geheimste und mächtigste Organisation Indiens. Sie nennt den Hinduismus eine „evangelikale Religion“, die zutiefst an das Kastensystem glaubt. Der Schritt von einem solchen Glauben zu Angriffen der oberen Kasten auf die Unterprivilegierten und Dalits (die ehemals Unberührbaren), auf Muslime, Sikhs, Buddhisten und Christen, zusammen immerhin rund 400 Millionen Menschen, ist nicht weit. Lynchmorde und öffentliche Auspeitschungen sind an der Tagesordnung, und der Schutz von Minderheiten, gesetzlich seit 1989 garantiert, spielt anscheinend keine Rolle mehr. Die Gewalt gegen Minderheiten ist zwar nicht neu, heute hat sie aber eine ideologische Untermauerung und wird von der Regierung toleriert. Oftmals schützt die Polizei die Angreifer. „Die Lynchmörder wissen, dass sie Schutz von höchster Stelle genießen.“
Mit zwei Gesetzen versuchte die Regierung Modi, das hinduistisch-nationalistische Indien zu festigen. Im August 2019 hob die Regierung mit einem Federstrich den verfassungsmäßigen Sonderstatus der Bundesländer Jammu und Kaschmir auf und unterstellte sie der Verwaltung Delhis. Kaschmir wird seit der Teilung des indischen Subkontinents 1947 sowohl von Pakistan als auch von Indien beansprucht. Die Mehrheit der Bevölkerung sind Moslems, die seit Jahrzehnten für ihre Unabhängigkeit kämpfen. Lange vor dem Corona-bedingten Lockdown verhängte die Regierung über den indischen Teil Kaschmirs eine Ausgangssperre. Das Militär ging brutal gegen Demonstranten vor, weil sie aus der Sicht Delhis Terroristen sind. Die Regierung zensierte die Presse und schaltete wochenlang das Internet und die Telefonverbindungen ab. Tausende Oppositionspolitiker und Journalisten landeten im Gefängnis, viele bis heute. Sieben Millionen Menschen im Kaschmirtal, „von denen die überwältigende Mehrheit die indische Staatsbürgerschaft ablehnt und seit Jahrzehnten für ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpft“, würden digital belagert und militärisch besetzt, klagte Arundathi Roy im November 2019.
Teile und herrsche, von den Briten in der Kolonialzeit in Indien perfektioniert, ist das Motto der Regierung Modi.
Im Dezember 2019 folgte dann ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz. Gemäß diesem Gesetz wird Einwanderern, die bis 2014 aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan kamen, in Indien Asyl gewährt. Aber das Gesetz gilt nur für Hindus, Sikhs, Buddhisten und Christen, und damit wird den muslimischen Einwanderern automatisch und offen diskriminierend die Staatsbürgerschaft verwehrt. Im Bundesstaat Assam, seit der Kolonialzeit ein Gebiet mit vielen Einwanderungsphasen, waren rund vier Millionen Menschen betroffen. Roy bezeichnet dieses Gesetz als „RSS-Version der Nürnberger Gesetze von 1935“, aufgrund derer „Abstammungspapiere“ vorgelegt werden mussten. Teile und herrsche, von den Briten in der Kolonialzeit in Indien perfektioniert, ist das Motto der Regierung Modi.
Verstärkt wird die Spaltung der Gesellschaft durch die Pandemie, unter der besonders die Armen leiden. Wie ist Indien im Frühjahr 2021 in die katastrophale zweite Welle der Pandemie hineingerauscht? Die beiden letzten Essays in diesem Band thematisieren den Umgang der Regierung mit der Pandemie. Zu Beginn der Krise behauptete Premierminister Modi auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos in selbstherrlicher Art, Indien habe „die Menschheit vor einer großen Katastrophe bewahrt, indem es das Coronavirus so effektiv eingedämmt hat“. Wenige Wochen später war die Katastrophe für alle Welt ersichtlich. Die Todeszahlen schnellten in die Höhe, die Krankenhäuser waren überfüllt, die Menschen starben auf den Straßen vor den Krankenhäusern, und den Krematorien ging das Brennmaterial für die im Hinduismus übliche Verbrennung der Toten aus.
Das Gesundheitssystem sei nicht zusammengebrochen, schreibt Roy, und das Virus habe Indiens Gesundheitssystem nicht überwältigt. Denn: „Das »System« existierte kaum.“
Offensichtlich fühlte sich die Zentralregierung nach der überstandenen ersten Infektionswelle allzu sicher. Bei Wahlen in sechs Bundesstaaten fanden Massenveranstaltungen statt und im Frühjahr 2021 besuchten mehrere Millionen Menschen das hinduistische Kumbh Mela Fest: echte superspreader Events. Indien bezeichnet sich gerne als Apotheke der Welt. Nirgendwo sonst werden mehr Medikamente und Impfstoffe hergestellt. Dennoch war das Gesundheitssystem hoffnungslos überlastet. Rund 3,5 Prozent des Bruttosozialproduktes gibt Indien für das Gesundheitswesen aus; in China sind es 5,4 und in Deutschland 11,4 Prozent. Pro 100 000 Einwohner arbeiten in Indien 8,6 Ärzte; weltweit sind es im Durchschnitt fast doppelt so viele. Das Gesundheitssystem sei nicht zusammengebrochen, schreibt Roy, und das Virus habe Indiens Gesundheitssystem nicht überwältigt. Denn: „Das »System« existierte kaum. Die Regierung – die jetzige wie die vorige Regierung der Congress Party – hat das wenige, was an medizinischer Infrastruktur vorhanden war, vorsätzlich demontiert.“ Ein vernichtendes Urteil für Modi, der sich gerne als Macher feiern lässt.
Die zweite Corona-Welle hatte auch deshalb ein so fürchterliches Ausmaß, weil die Regierung mit der „Zerstörung der letzten Überreste der Demokratie, [der] Verfolgung von nichthinduistischen Minderheiten und [der] Festigung der Grundlagen der Hindu-Nation“ beschäftigt war.