Wenn von einer engeren europäischen Integration als Antwort auf die zunehmende Europaskepsis die Rede ist, dann steht meistens die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik an erster Stelle. In den Umfragen ist seit Jahren eine Mehrheit der Bürger für eine stärkere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, auch weil die von außen drohenden Gefahren im Osten, Südosten und Süden der EU dramatisch zugenommen haben. Welcher Art diese Gefahren sind und wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU darauf reagiert (oder auch nicht reagiert), beschreibt Christian Deubner in seiner materialreichen Studie sehr eindrücklich. Das Fazit seiner Arbeit lässt sich – vorweggenommen – so interpretieren: Trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren sind GASP und GSVP immer noch weitgehend Stiefkinder der europäischen Integration, weil dieser „harte“ politische Bereich zu den zentralen Souveränitätsrechten eines Staates zählt, den die Mitgliedsstaaten der Union zäh verteidigen.

Deubners Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Im ersten geht es um eine Bestandsaufnahme der Lage im Jahre 2017 und wie es um die  Zusammenarbeit für die äußere Sicherheit in der EU in diesem Jahr bestellt ist. Im zweiten Teil geht er der spannenden Frage nach, wie die äußere und innere Sicherheit in der EU und ihren Mitgliedstaaten zunehmend verknüpft ist, das heißt, wie zum Beispiel islamistische Terroranschläge innerhalb Europas das außen- und sicherheitspolitische Denken und Handeln beeinflussen.

Die beiden einzigen schlagkräftigen Militärmächte Europas - Frankreich und Großbritannien - neigen dazu, kleinere Konflikte im Süden, vor allem in Afrika, im Alleingang oder im Verein mit einer „Koalition der Willigen“ lösen zu wollen.

Die Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen für Europa macht deutlich, wie sich in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts die Lage in der weiteren europäischen Nachbarschaft verschlechtert hat: Von Marokko bis Afghanistan zieht sich ein Krisenbogen um die EU, der von Bürgerkriegen, zerfallenden Staaten, Terrorismus, religiösen und ethnischen Konflikten sowie massiven externen Interventionen gekennzeichnet ist. Weiter südlich, in Subsahara-Afrika, sieht es nicht viel besser aus und im Verein mit der weltweit höchsten Bevölkerungszunahme führt dies zu massiven Migrationsbewegungen, die zunehmend als wesentliche Sicherheitsbedrohung für die EU aufgefasst wird. Und schließlich haben die russische Intervention in der Ukraine und die Annexion der Krim das sicherheitspolitische Verhalten insbesondere der östlichen EU-Mitglieder, aber auch darüber hinaus, nachhaltig beeinflusst.

Auf diese Gefahren haben die Länder der EU unterschiedlich reagiert, und genau das ist einer der Gründe für die Schwäche der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Trotz Globalisierung und digitaler Vernetzung ist die Geographie nach wie vor „eine grundlegende Konstante der Außenpolitik“, wie Egon Bahr dies einmal ausgedrückt hat. Dies führt zum „Nichtvorhandensein gemeinsamer Bedrohungsperzeptionen und gemeinsamer Antworten“, wie eine Kapitelüberschrift bei Deubner lautet. Konkret: Für die Mittelosteuropäer, vor allem Polen und Balten, stellt Russland die größte Bedrohung dar, während Frankreich, Italien und Spanien die größten Gefahren in der zunehmenden Anarchie im Nahen Osten, Nord- und Westafrika sehen. Das ist alles nicht neu, aber interessant wird es, wenn man die unterschiedlichen Reaktionen darauf betrachtet: Für Polen und Balten (und natürlich auch andere) ist die NATO der große Sicherheitsanker, hinter der GASP/GSVP naturgemäß zurückstehen müssen. Dies führt gewissermaßen zu einem Teufelskreis: Weil die europäische Verteidigungskapazität zu schwach ist, stützt man sich auf die NATO, und indem man dies tut, bleiben GASP/GSVP schwach und so weiter.

Auf der anderen Seite neigen die beiden einzigen schlagkräftigen Militärmächte Europas, Frankreich und Großbritannien dazu, kleinere Konflikte im Süden, vor allem in Afrika, im Alleingang oder im Verein mit einer „Koalition der Willigen“ lösen zu wollen. Für größere Konflikte wählt man zumeist eine Lösung im Rahmen der Vereinten Nationen, so dass für die GSVP wenig übrig bleibt. Immerhin gab es seit 2003, als zum ersten Mal in der Demokratischen Republik Kongo interveniert wurde, über 30 GSVP-Missionen, davon mehr als die Hälfte in Afrika. Die meisten waren und sind zivil-militärische Missionen, womit die EU ihrem Anspruch als zuvörderst „zivile Weltmacht“ gerecht werden will. In der Regel sind diese Missionen personell schwach ausgestattet, wobei die größten, wie im Tschad und im Kongo, zum überwiegenden Teil von Frankreich gestellt wurden, wie auch Paris derzeit mit etwa 8000 Soldaten „im Alleingang“ in Afrika präsent ist.

Als eine zentrale Schlussfolgerung aus dem ersten Teil seines Buches kommt Deubner zum Ergebnis, dass „Probleme der inneren Sicherheit zu Schlüsseldeterminanten und –zielen der GSVP-Missionen und der GASP geworden sind“. Dazu haben insbesondere die zunehmende Zahl islamistischer Terroranschläge in europäischen Metropolen und die seit 2014 massiv zunehmende irreguläre Migration nach Europa beigetragen. Direkte Folgen dieser internen Bedrohungsperzeption sind zum Beispiel das militärische Engagement in Mali und die heute größte Militäroperation der EU, die „EuNavFor Med Sophia“ im Mittelmeer mit 1800 Personen.

Doch diese Bedrohungsperzeption scheint noch nicht groß genug zu sein, um eine substantielle Stärkung der GSVP zu bewirken, wie Deubner sarkastisch anmerkt: „Die Zustände müssen wohl noch deutlich schlechter werden, bevor sie zu einer Verbesserung führen – nicht gerade eine Perspektive, auf die man hoffen sollte.“ Das sollte man in der Tat nicht, aber immerhin lässt sich hoffen, dass Deubners beeindruckende und umfassende Studie dazu beiträgt, genau dies zu verhindern. Deshalb: eine Pflichtlektüre für alle, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befassen.