Dierk Hirschel war einer der Kandidaten bei der letzten Vorsitzendenwahl der SPD. Zusammen mit Hilde Mattheis kandidierte der Verdi-Chefökonom als Vertreter des linken, gewerkschaftsnahen Flügels der SPD. In seinem neuen Buch Das Gift der Ungleichheit nennt Hirschel die Kandidatur einen Versuch „gewerkschaftliche und progressive linke Inhalte in die innerparteiliche Debatte einzuspeisen.“

Ausgangspunkt ist zunächst einmal eine – beeindruckend düster geratene – Beschreibung des aktuellen Zustands Deutschlands und Europas. Stark wachsende Ungleichheit, eine Krise von Sozialsystemen und Gesundheitswesen, Umweltprobleme, Klimakatastrophe, Landwirtschaftskrise, Migrationsbewegungen und eine Krise der repräsentativen Demokratie.

Der zweite Abschnitt behandelt die Veränderungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Auch hierzulande haben „Instabilität, Unsicherheit und Ungleichheit zugenommen“. Globalisierung, Digitalisierung und Dominanz der Finanzmärkte haben das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft verändert. Die ökonomischen Strukturen sind unter Veränderungsdruck geraten und mit ihnen die Beziehungen und Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital.

Diese Veränderungsprozesse waren auch von einer „Krise der Gegenkräfte und Institutionen“ begleitet. Die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind ins Rutschen geraten. Der Sozialstaat wurde verstümmelt und seine Institutionen – einschließlich des Bildungssektors – kaputtgespart. Vielfältige Hinweise auf die große Verantwortung, die für Hirschel die Agenda-Politik der „Schröder-Regierung“ für diese Entwicklung trägt, können in diesem Kontext nicht fehlen. Allerdings beschreibt Hirschel auch die „Ohnmacht der organisierten Arbeit“ und die Schwächung der Gewerkschaftsbewegung. Auch die Partei, um deren Vorsitz sich Hirschel bewarb, ist natürlich Teil dieser Krise der Gegenkräfte. Hirschel beschreibt ideologische Entwicklungen und soziologische Veränderungen in der SPD, die, so der Befund, in der Konsequenz zu einer wachsenden Entfremdung von den unteren und mittleren Arbeitnehmermilieus führten.

Im abschließenden Teil werden die Konturen des anstehenden Reform- und Modernisierungsprojekts geschildert, der „sozial-ökologischen Transformation des Rheinischen Kapitalismus“. Es ist ein sehr breites Spektrum wirtschafts-, sozial-, umwelt- und technologiepolitischer Themen, das hier aufgerollt wird. Ebenso wie eines politischen Kompass bedarf ein linkes Erneuerungsprojekt allerdings auch tatsächlich handlungswilliger und -fähiger Akteure.

Dies erfordert Erneuerungsprozesse und Allianzen: von der „Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung“ über die „Erneuerung der Sozialdemokratie“ hin zur Beschreibung einer notwendig-konstruktiven Rolle für die Linkspartei. Diese „Agenda fortschrittlicher Politik“ liest sich über weite Strecken wie der Blueprint eines Koalitionsvertrags für R2G. Eine Stärke Hirschels ist es dabei, dass er nicht nur Ökonomie und Ökologie, sondern auch die Dimension der Arbeitswelt und der Rolle der Gewerkschaften als Akteure progressiver Politik systematisch mitdenkt. Dies zeigt sich exemplarisch an den Ausführungen zur Demokratisierung der Arbeitswelt, einer lebensweltlich extrem wichtigen Dimension von gesellschaftlicher Teilhabe, die in vielen akademischen Texten eher vergessen wird.

In der Summe stellt Das Gift der Ungleichheit einen sorgfältigen und ambitionierten Versuch dar, eine Handlungsagenda für das links-sozialdemokratische Milieu in der Perspektive auf den Herbst 2021 zu formulieren. Ein Beitrag zu einer vom Autor vermissten ernstzunehmenden gesellschaftspolitischen Debatte in der deutschen Sozialdemokratie ist es damit allemal.

Um die Herausforderungen für die heutige Sozialdemokratie geht es auch in einem anderen Buch: Foretelling the End of Capitalism des italienischen Ökonomen Francesco Boldizzoni. Das Buch trägt den vielversprechenden Untertitel „Intellectual misadventures since Karl Marx“. Boldizzoni hat sich zur Aufgabe gemacht, die Untergangsprognosen linker Kapitalismuskritiker genauer zu analysieren. Zweck dieser „Reise durch unerfüllte Prophezeiungen“ ist es, aus dem Verstehen der Fehler dieser Untergangsprognosen zu lernen und Handlungsempfehlungen für die heutige Reformarbeit am Kapitalismus abzuleiten – einer Wirtschaftsformation, die sich als erstaunlich zählebig und anpassungsfähig erwiesen hat. Und das, obwohl die vermeintliche „Unvermeidbarkeit“ ihres Untergangs von Generationen hochbelesener Kapitalismuskritiker in den letzten zwei Jahrhunderten immer wieder sorgfältig nachgewiesen wurde.

Boldizzonis Buch ist zunächst ideengeschichtlich gegliedert. Der erste der vier Hauptabschnitte widmet sich der Kapitalismuskritik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit den Zentralfiguren John Stuart Mills und Karl Marx. Kapitel 2 widmet sich der Kapitalismuskritik der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Ausbleiben des von Marx vorhergesagten Scheiterns des Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen führte zu einer Spaltung der Kapitalismuskritik in Untergangspropheten (die in der großen Depression, dem Imperialismus und dem Aufstieg des Faschismus die Zeichen der finalen Krise des Kapitalismus erkannten) und reformorientierten Kapitalismusanalytikern im Stile John Maynard Keynes' oder Joseph Schumpeters.

Das anschließende Kapitel betrachtet die in den 60er Jahren wiederauflebende Kapitalismuskritik, die sich aus der Frustration über die enttäuschten Hoffnungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre („eine harte Zeit für den Marxismus“) speiste. Wichtige Figuren sind hier die Vertreter der Frankfurter Schule, die der Kapitalismuskritik eine stärker philosophische und kulturtheoretische Dimension gaben. Das vierte Kapitel behandelt die intellektuelle Jetztzeit, die Implosion der Überwindungsphantasien und den Triumph der  Kapitalismus-Apologeten im Zeichen des „Endes der Geschichte“ und des Dritten Wegs. Dieser Parforceritt durch die (marxistische) politische Ökonomie der letzten zweihundert Jahre ist nicht immer leicht nachvollziehbar. Dennoch macht dieser Überblick deutlich, welche intellektuelle Vielfalt und welcher theoretische Anspruch in der Analyse gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse einst auf der linken Seite des politischen Spektrums vorhanden waren.  

In den abschließenden Kapiteln untersucht Boldizzoni die Gründe für die vielfältigen Fehl-Prophezeiungen von Autoren (bis auf Rosa Luxemburg handelt es sich nur um Männer), denen er durchaus in gewisser intellektueller Sympathie verbunden scheint. Er betont zwei Aspekte: zum einen die kognitiven und wahrnehmungspsychologischen Schwierigkeiten jeder Art von Zukunftsvorhersage. Zum anderen aber die Unterschätzung der Langsamkeit von Veränderungen sozioökonomischer Systeme, zumal eines, das so solide im normativen, ökonomischen und kulturellen Gewebe des Westens verankert ist wie der Kapitalismus. Eines Tages, so Boldizzoni, wird es auch damit zu Ende gehen. Aber man sollte lieber mit Jahrhunderten als mit Jahrzehnten gradueller Veränderungen rechnen. Bis dahin bleibt eben die ur-sozialdemokratische Aufgabe der verbessernden Reformpolitik, die die dem Kapitalismus immanenten Verteilungs-, Besitz- und Machtungleichheiten erträglicher macht. Genausowenig wie Hirschel sieht Boldizzoni die westliche Sozialdemokratie in ihrer heutigen Verfassung für diese Aufgabe gut aufgestellt: „Die Parteien konzentrieren sich auf Bürgerrechte, vernachlässigen jedoch die sozialen Rechte völlig, setzen sich für die Verteidigung der Umwelt ein, nicht aber für die der Arbeit, widmen sich dem heiligen Dogma des Globalismus und werden daher fast ausschließlich in den wohlhabenden Stadtvierteln gewählt. Sie haben keine Zukunft, wenn sie nicht wieder eine Verbindung zu den verletzlicheren sozialen Schichten herstellen und anfangen, deren Sprache zu sprechen. “

Für Menschen, die es gerne optimistischer haben, noch eine Empfehlung: Aufklärung jetzt von Steven Pinker. Der in Harvard lehrende Psychologie-Professor demonstriert in 23 faktengesättigten Kapiteln, wie dramatisch sich in vielen Bereichen die Lebensverhältnisse der Menschen in den letzten hundert Jahren verbessert haben. Das Buch ist eine Fundgrube erstaunlicher Zahlen: So ist der Anteil von absolut Armen in den letzten 35 Jahren von knapp 50 Prozent auf 10 Prozent der Weltbevölkerung zurückgegangen. An jedem einzelnen Tag in den letzten 25 Jahren ist, statistisch betrachtet, die Zahl absolut armer Menschen um 137 000 gesunken. Die Ausbreitung wissenschaftlich-technischen Fortschritts und die damit drastisch steigende Produktivität führen dazu, dass sich die materielle Ungleichheit auf diesem Planeten insgesamt verringert und nicht vergrößert.

Dank der Grünen Revolution hat sich der Flächenbedarf für die Produktion einer gegebenen Menge Nahrungsmittel um zwei Drittel verringert. Von 1961 bis 2009 vergrößerte sich der Umfang der Anbauflächen um 12 Prozent, die Menge der geernteten Nahrungsmittel hingegen um 300 Prozent. In fast allen für die Menschheit und ihre konkreten Lebensbedingungen relevanten Bereichen – Ernährung, Umwelt, Sicherheit vor Krieg und Gewalt, Morde und Unfälle, Gesundheit, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Bildung, Menschen- und Bürgerrechte, materielle Lebensumstände – hat es in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gegeben. Hungersnöte und Unterernährung sind drastisch zurückgegangen, auch in den Entwicklungsländern. Der Anteil von Mangelernährten an der Bevölkerung ist dort in den letzten 45 Jahren von 35 Prozent auf elf Prozent gesunken. Noch im Jahr 1947 lag der geschätzte Anteil mangelernährter Menschen bei der Hälfte der Weltbevölkerung.

Die statistische Lebenserwartung eines neu geborenen Menschen lag 2015 weltweit bei 71,4 Jahren. Der Fortschritt gilt auch für die Umweltbelastung, zumindest relativ. Die Anzahl größerer Ölkatastrophen ist von über 100 im Jahr 1973 auf 16 im Jahr 2016 zurückgegangen. Die Waldfläche in Europa ist heute größer als am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Lebensumstände in Städten sind heute um ein Vielfaches gesünder als in den mit Blei und Ruß verseuchten Molochen des Industriezeitalters. Und auch innerhalb der reichen Länder gibt es, bei aller materiellen Ungleichheit, immer noch Fortschritt in den Lebensbedingungen. Extreme Formen der materiellen Armut sind immer seltener. Im Jahr 2011 verfügten 95 Prozent der US-amerikanischen Haushalte unter der Armutsgrenze über einen Stromanschluss, fließendes Wasser, Toiletten mit Spülung, Kühlschrank, Herd und Farbfernseher – Lebensumstände, die selbst sehr reiche Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts nicht besaßen. Und nicht zuletzt besitzt jeder zweite Mensch auf diesem Planeten ein Handy.
 
Aufklärung jetzt ist mit seiner Faktenfülle und klugen Argumentation ein wunderbares Gegengift zur wachsenden Technikskepsis der westlichen Welt. Pinker ist ein glühender Verteidiger des Rationalismus in der Tradition der europäischen Aufklärung. Als dessen neuster (und überraschender) Feind erweist sich, so Pinker, zunehmend ein Teil des „progressiven“ Milieus. „Intellektuelle hassen Fortschritt. Intellektuelle, die sich selbst als ,progressiv' bezeichnen, hassen Fortschritt erst recht“ schreibt Pinker. Man würde das Buch auch gerne der „Generation Greta“ unter den Weihnachtsbaum legen. Man hat ihnen nicht ihre „Kindheit gestohlen“. Vielmehr hatte und hat diese Generation das Glück, in einer Periode außerordentlicher Friedlichkeit und beispiellosen Fortschritts in den Existenzbedingungen erheblicher Teile der Menschheit aufgewachsen zu sein. Dies gilt in vielen Ländern auch in Hinblick auf die Bewahrung von Umwelt und Natur und den Schutz von Lebens- und Naturräumen vor der Art von Verwüstungen die das klassische „Industriezeitalter“ prägten.

Einer von Marx' zentralen Fehlern, so Boldizzoni, sei die Fehlinterpretation von technologischem Fortschritt gewesen – und die Unterschätzung der Fähigkeit des Kapitalismus, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Wenigstens in dieser Hinsicht könnte der heutige „Progressive“, ob jung oder alt, dazulernen. Aufklärung jetzt ist das ideale Buch dafür.