Die Fragen stellte Anja Wehler-Schöck.
Wie blickt Nachbar Frankreich, wo nächstes Jahr die Präsidentschaftswahl ansteht, auf die deutsche Bundestagswahl?
Diese Wahl wurde in Frankreich mit sehr großem Interesse verfolgt. Angela Merkel war auf den Titelseiten aller Zeitungen zu sehen. „Mutti Superstar“ – 16 Jahre im Kanzleramt, das hat auch in Frankreich Spuren hinterlassen.
Mir sind bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen den Entwicklungen in Deutschland und in anderen westlichen Demokratien aufgefallen. Zunächst die Wählervolatilität: Sogar in einem so stabilen Land wie Deutschland spielte sie eine zentrale Rolle. Zwischen Juni und September kam es zu Veränderungen von 10 bis 15 Prozentpunkten. Das ist präzedenzlos. Zweitens ist inzwischen auch in Deutschland eine Zersplitterung der Parteienlandschaft festzustellen, nachdem früher nur zwei Parteien die politische Szene bestimmt haben. Jetzt gibt es mehrere wichtige Parteien. Drittens die Personalisierung: Selbst in einem Land mit einem stark parlamentarisch geprägten System, in dem die Parteien nach wie vor großen Einfluss haben, waren Debatten und Wahlkampf so personalisiert wie nie zuvor.
Diese drei Faktoren – Wählervolatilität, Zersplitterung der Parteienlandschaft und Personalisierung – sind für mich als externem Beobachter die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen Wahlen.
Wie wird sich die Stabübergabe an einen möglichen Kanzler Olaf Scholz auf das deutsch-französische Tandem auswirken?
Scholz ist weder auf der europäischen Bühne noch in Frankreich ein Neuling, sondern kennt beide aus seinen früheren Funktionen. Er wird sich da schnell hineinfinden. Die Herausforderung wird darin bestehen, schrittweise Angela Merkels Platz auf der europäischen Bühne einzunehmen. Es gibt in Europa eine Reihe von Themen, die dringend angepackt werden müssen und bei denen wir einen deutschen Partner brauchen – von der Verteidigung über die Haushaltsregeln bis hin zum ökologischen Wandel.
Welche Impulse sind von der französischen EU-Ratspräsidentschaft zu erwarten, die im Januar 2022 beginnt?
Die offiziellen Prioritäten der französischen Ratspräsidentschaft hat Präsident Macron bereits formuliert: der ökologische Wandel, die politische, wirtschaftliche und digitale Selbstbestimmung und eine europäische Mindestlohnrichtlinie. Alles mit Blick auf das Ziel der strategischen Autonomie. Das sind die wichtigen Themen, keine Frage. Für mich gehören auch noch Einwanderung und Asyl sowie die EU-Außengrenzen dazu.
Frankreich braucht einen deutschen Partner.
Wir sind heute aber in einer anderen Phase als zu der Zeit, als Emmanuel Macron zum Präsidenten gewählt wurde. Damals hat er viel über seine Zukunftsvision von der Europäischen Union geredet. Wir sind inzwischen von der Theorie zur Praxis übergegangen und müssen jetzt konkret etwas bewegen. Rhetorik allein reicht nicht mehr.
Kommenden April stehen in Frankreich Präsidentschaftswahlen an. In den Umfragen liegen Emanuel Macron und Marine Le Pen derzeit mit jeweils etwa einem Viertel der Stimmen vorne. Die mögliche Kandidatin der Parti Socialiste (PS) kommt dagegen nur auf rund sieben Prozentpunkte. Welche Rolle kann die PS bei diesen Wahlen spielen?
Zunächst muss man festhalten, dass die Wahlen noch in weiter Ferne liegen. Auch in Deutschland sah die Situation zu einem vergleichbaren Zeitpunkt noch ganz anders aus als dann am Wahlabend. Die Wählervolatilität ist in Frankreich besonders ausgeprägt. Daher ist bei Prognosen besondere Vorsicht geboten. Hinzu kommt, dass zwar in Politik und Medien schon eifrig über die Präsidentschaftswahl debattiert wird, die Bevölkerung sich aber damit noch gar nicht beschäftigt. Ihr Interesse daran ist im Augenblick sogar noch geringer als sonst. Auch die Tatsache, dass viel weniger Menschen wählen gehen wollen als sonst, eröffnet Schwankungsspielräume. Bis April wird noch allerhand passieren. Interessant ist, was sich derzeit im rechten Spektrum abspielt: Innerhalb eines Monats ist Marine Le Pen, die in den Umfragen oft vorne lag, abgesackt, weil ein anderer rechtsextremer Kandidat – der Journalist Éric Zemmour– aufgetaucht ist und ihr zumindest im Augenblick Stimmen abjagt.
Was die PS betrifft, so waren sie 2012 stärker denn je – das ist noch gar nicht so lange her. Noch nie hatten die Sozialisten auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene so viele Ämter inne wie 2012. Nach diesem Höhenflug sind sie 2017 so abgestürzt, dass sie fast in der Versenkung verschwunden wären. Und das alles in fünf Jahren. Heute steht die PS wieder besser da. Es ist ihr gelungen, bei den in Frankreich sehr wichtigen Kommunalwahlen 2020 ihre Position zu behaupten und teilweise sogar auszubauen. Bei den Regionalwahlen im Juni haben die Sozialisten die Macht in allen von ihr regierten Regionen verteidigen können. Die Frage ist, ob sie diese Erfolge auf die nationale Ebene übertragen können wird.
Wir stehen noch ganz am Anfang. Anne Hidalgo ist von der PS bislang noch nicht offiziell nominiert worden, das wird erst am 14. Oktober passieren. Als Bürgermeisterin der Hauptstadt verfügt sie über einen Amtsbonus. Außerdem steht sie für das Zusammendenken von Ökologie und sozialer Gerechtigkeit, was heute von elementarer Bedeutung ist. Zu diesen inhaltlichen Stärken kommen noch ihre persönlichen Qualitäten hinzu. Ein weiterer Vorteil für sie ist, dass Emmanuel Macron während seiner fünfjährigen Amtszeit nach rechts gerückt ist – jedenfalls nehmen die Franzosen das so wahr, und ich denke, dass sie da richtig liegen. Der Platz der Sozialdemokratie ist heute also nicht von Macron besetzt, wie es 2017 vielleicht noch der Fall war.
Kurzum: Es wird natürlich ein schwieriger Wahlkampf für die PS werden, weil man von so weit unten startet. Aber das Rennen ist offen. In den kommenden Monaten kann noch viel passieren.
Muss Anne Hidalgo noch um ihre Nominierung bangen?
Nein. Es gibt einen breiten Konsens in der Partei. Eine so große Einigkeit hat es bei keiner Kandidatur der vergangenen dreißig Jahre gegeben.
Der Platz der Sozialdemokratie ist heute nicht von Macron besetzt, wie es 2017 der Fall war.
Halten Sie es für möglich, dass sich die linken Parteien für die Präsidentschaftswahl auf eine gemeinsame Kandidatin – wie Anne Hidalgo – verständigen?
Die Franzosen wollen kein zweites Duell zwischen Macron und Le Pen. Im Augenblick ist Macron zweifellos der Favorit bei dieser Wahl. Aber für einen amtierenden Präsidenten ist es immer schwer, den Schritt zum Kandidaten erfolgreich hinzubekommen. Er muss erklären, was er sich für die zweite Amtszeit vornimmt, was er nicht in seiner ersten Amtszeit bewerkstelligt hat. Das ist kein leichtes Unterfangen.
Eine der entscheidenden politischen Fragen wird sein, wie viele Prozentpunkte man braucht, um in die zweite Runde, in die Stichwahl zu kommen. Diese Zahl könnte unter Umständen sehr niedrig liegen, vielleicht wieder bei weniger als 20 Prozent wie 2002. Wenn es so kommt, hat die PS womöglich eine Chance.
Eine gemeinsame Kandidatur der linken Kräfte halte ich für undenkbar – vor allem wegen der grundlegenden Differenzen der PS mit der radikalen Linken um Jean-Luc Mélenchon, der selbst kandidieren will. Zwischen PS und Grünen ist die Situation ebenfalls kompliziert. Natürlich möchte jede Partei einen eigenen Kandidaten nominieren oder hat dies bereits getan.
Zudem ist fraglich, ob die Wählerinnen und Wähler für eine gemeinsame Kandidatin stimmen würden. Würde sich die grüne Wählerschaft sagen, „Anne Hidalgo ist doch auch grün, und damit die Linke in der Stichwahl vertreten ist, geben wir ihr unsere Stimme“? Derzeit liegen beide, PS und Grüne, gleichauf bei sieben oder acht Prozent, aber erfahrungsgemäß geht es mit der einen Partei abwärts und mit der anderen aufwärts. Ob sich der abgeschlagene Kandidat dann hinter die Kandidatin stellt, die die Nase vorn hat? Das ist schwer vorstellbar.
Bei den jüngsten Regionalwahlen lag die Wahlbeteiligung bei etwa 35 Prozent. Ist die Bevölkerung politikverdrossen?
Seit der Wahl von Emmanuel Macron und den darauffolgenden Parlamentswahlen befindet sich die Wahlbeteiligung in Frankreich auf einem historischen Tiefststand. Es gab seither keine Wahl, an der auch nur die Hälfte der Franzosen teilgenommen hätte. Das haben wir in Frankreich noch nicht erlebt. Es besteht die Gefahr, dass dieses Phänomen auch die Präsidentschaftswahl beeinflussen wird, wo die Beteiligung normalerweise bei etwa 80 Prozent liegt.
Wir erleben in Frankreich eine Krise der Demokratie, die sich unter anderem in einer niedrigen Wahlbeteiligung äußert.
Laut einer aktuellen Umfrage sind mehr als 60 Prozent der Franzosen der Meinung, dass sich durch die Präsidentschaftswahlen für sie nichts ändern wird. Wie die Wahl ausgeht, mache für sie keinen Unterschied. Wir erleben in Frankreich derzeit also ebenso wie in anderen Ländern eine Krise der Demokratie, die sich unter anderem in einer niedrigen Wahlbeteiligung äußert.
In dieser Situation gibt es zwei Szenarien. Das eine ist pessimistisch: Eine geringe Beteiligung bei der Präsidentschaftswahl, die eine Regierung nach sich zieht, von der sich die Mehrheit nicht vertreten fühlt. Aber es gibt auch ein optimistisches: Die Franzosen gehen zur Wahl, wenn sie überzeugt sind, dass etwas auf dem Spiel steht, und wenn sie verstehen, was sich durch das Wahlergebnis für sie und für ihr Land verändert. Wenn im Wahlkampf deutlich wird, dass es um etwas geht, wird das die Wählerinnen und Wähler hoffentlich motivieren, ihre Stimme abzugeben.
Ein globaler Ausblick zum Schluss: Wie steht es Ihrer Meinung nach derzeit um die Sozialdemokratie in der Welt?
Lange Zeit haben wir geglaubt, dass sich alles immer weiter in Richtung mehr Demokratie entwickeln würde. Das war in den vergangenen zwanzig Jahren nicht der Fall. Eine Reihe von Weltmächten mit demokratischer Staatsordnung wurde eher autoritär regiert. Nach diesem Rechtsruck haben wir jetzt wieder eine ausgewogenere Situation. Dass Joe Biden mit einem Programm, das linker war als bei der Demokratischen Partei traditionell üblich, die Wahlen gewonnen hat, war ein wichtiges Signal. In Lateinamerika ist die Lage komplizierter. Aber in Europa zeichnet sich ein positiver Trend ab, zum Beispiel in Portugal, in Spanien und in allen skandinavischen Ländern, die wieder von Sozialdemokraten regiert werden. Man könnte sagen, dass der Gedanke vom unausweichlichen Niedergang der Sozialdemokratie, der vor zehn Jahren vielleicht noch seine Berechtigung hatte, heute nicht mehr zutrifft. Die Entwicklungen der letzten Monate und Jahre stimmen also etwas hoffnungsfroh.
Aus dem Französischen von Christine Hardung