Der versuchte Putsch von Freitagabend schien zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf Erfolg zu haben. Wie konnten die putschenden Militärs einer solchen Fehleinschätzung unterliegen?

Meldungen, die auf Geheimdienstkreise zurückgehen, besagen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan kurz vor dem Putschversuch einer Verhaftungswelle in den Reihen der Armee grünes Licht gegeben hatte. Im Morgengrauen, am Samstag, hätten die Verhaftungen stattfinden sollen. Offensichtlich hatten die  Militärs davon Wind bekommen und dann eiligst versucht, der Verhaftungswelle zuvorzukommen. Sie hofften wohl, dass der Rest der türkischen Armee und die zivile Opposition sie spontan unterstützen würden. Als diese Hoffnungen starben, gaben sie schließlich auf.

Erdoğan rief noch während geschossen wurde die Menschen dazu auf, auf die Straße zu gehen. Am Istanbuler Flughafen ließ er sich dann von seinen Anhängern wie ein Erlöser feiern. Dies nährt nun Verschwörungstheorien, der Putsch sei von ihm inszeniert worden. Was ist davon zu halten?

Nichts. Die Ereignisse sehen bei oberflächlicher Analyse in der Tat wie eine Inszenierung aus. Dass die Menschen auf die Straße gingen, ist in der Tat kein Zufall. Es ist aber die haarsträubend kopflose Reaktion der Putschisten, die Erdoğan in die Hände spielte. Es gab einige Stunden in der Nacht zum Samstag, während denen Erdoğan keineswegs wie ein Sieger aussah. Wer folgte denn seinem Aufruf? Das ist mittlerweile unzweideutig. Erdoğan und seine Unterstützer in der AKP haben nach dem heftigen Gezi-Aufstand im Sommer 2013 damit begonnen, eigene Schlägertruppen zu sammeln und auszubilden. Diese Schlägertruppen traten bereits im Vorfeld der Parlamentswahl im letzten November auf. Ihr Ziel damals waren vor allem oppositionelle Journalisten und Medien. Der bekannte Kommentator und Fernsehmoderator Ahmet Hakan zum Beispiel wurde von ihnen verprügelt. Das Gebäude der größten Zeitung Hürriyet wurde zwei Tage in Folge von einem gut organisierten Mob überfallen. Die sozialen Medien sind voll von Hinweisen auf die Aggressivität dieses Mobs. In türkischen Medien wurde oft berichtet, dass diese Handlanger zu Miliztruppen ausgebildet werden sollten, die im Falle eines Bürgerkriegs zusammen mit der Polizei und dem Geheimdienst die islamistische Front bilden sollen. Es sind genau diese Männer, die am Putsch-Abend in Erscheinung getreten sind. Seit Samstag sind sie auf den Straßen und Plätzen großer türkischer Städte präsent. Sie handeln nach Anweisung. Genau für solche Fälle.

Präsident Erdoğan hat seinen Widersacher, den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, als Schuldigen ausgemacht. Weiß man schon Genaueres über die Verantwortlichen des Putsch-Versuchs?

Es wurden bisher hunderte Namen angeblich Schuldiger öffentlich gemacht. Tausende Soldaten, Juristen und Polizisten wurden bereits verhaftet oder aus dem Amt entlassen. Nun tauchte auch eine Liste der Journalisten auf, die bald verhaftet werden sollen. Auf dieser Liste stehen die meisten oppositionellen Kolleginnen und Kollegen – viele davon haben rein gar nichts mit Gülen zu tun. Da die Regierung seit Jahren willkürlich verhaften lässt und dabei rituell den Vorwurf der Mitgliedschaft einer Terrororganisation erhebt, sind die Angaben der Regierung mit großer Vorsicht zu genießen. Der Vorwurf, die Gülen-Sekte stehe hinter dem Putschversuch, ist bisher mit keinem Indiz belegt worden. Deshalb forderte US-Außenminister John Kerry, die türkische Regierung solle fundierte Fakten auf den Tisch legen, bevor sie die USA zur Auslieferung des in Pennsylvania lebenden Geistlichen auffordert. Nach Kerrys Angaben liegt den US-Behörden bisher nicht einmal ein offizieller Auslieferungsantrag vor.

Erdoğan sprach von der „Säuberung“ des Militärs. Sie erwähnen Tausende Richter, die entlassen wurden. Zudem denkt Erdoğan laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nach. Muss man sich erneut Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei machen?

Sorgen muss man sich ja schon seit Ende 2013 machen. Erdoğan ließ damals Dutzende Juristen und Polizisten verhaften, weil sie ihn und seine Entourage der Korruption bezichtigten. Sorgen machen muss man sich aber spätestens seit Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014. Damals kündigte er an, er werde sich weder an die Verfassung noch an Gesetze halten. Leider haben die westlichen Verbündeten vorgezogen, ihn im Namen der Realpolitik gewähren zu lassen. Mittlerweile haben die Demokraten in der Türkei, also jene Menschen, die weder eine zivile Diktatur unter Erdoğan noch eine Militärdiktatur wollen und sich mutig dagegen stellen, wohl alle Hoffnung auf die Solidarität des Westens aufgegeben.

Nicht nur AKP-Anhänger, auch alle Oppositionsparteien haben sich gegen den versuchten Putsch ausgesprochen. Ist dies nicht vielleicht auch eine Chance, das Land auf demokratischem Wege zu einen?

Weder die Einigkeit in der Ablehnung des Putsches noch die Massen, die auf die Straßen gingen, sind eine echte Hoffnung für die Demokratie in der Türkei. Die Menschen haben, Entschuldigung, schlicht die Nase voll von Militärputschen. Nach insgesamt drei erfolgreichen und drei fehlgeschlagenen Coups reicht es. Kaum jemand hätte sich in der Nacht zum Samstag auf die Seite der Putschisten stellen mögen. Das war eine totale Fehlannahme. Das belegt wahrscheinlich, wie sehr sich einige Militärs von den Realitäten der türkischen Gesellschaft entfernt haben.

Andererseits, was tatsächlich zum Putsch geführt hat, ist die ausgeweidete türkische Demokratie und das darin wuchernde autoritäre System mit einem Präsidenten, der sich willkürlich durchsetzt. Das führte zum recht sinnlosen Aufstand der Militärs. Dieses Dilemma wird sich nun, da sich Erdoğan sogar gestärkt fühlt, verstetigen. Wahrscheinlich werden Erdoğan und seine Gefolgsleute die Gesetze gänzlich ignorieren. Man kann seit Samstag davon ausgehen, dass die Türkei in den nächsten Jahrzehnten nicht einmal so viel Demokratie erleben wird, wie es bisher noch möglich war. Das wird Folgen haben, die auch außenpolitische, anti-westliche Abenteuer sein könnten.

 

Die Fragen stellte Hannes Alpen.