Die Weltgemeinschaft kommt am 23. und 24. Mai 2016 in Istanbul zum ersten Humanitären Weltgipfel (World Humanitarian Summit, WHS) der Vereinten Nationen zusammen. Angesichts der gegenwärtig zu beobachtenden größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist der Zeitpunkt gut gewählt. Nun hat Ärzte ohne Grenzen (MSF), eine der wichtigsten Organisationen in diesem Bereich, wenige Wochen vor dem Gipfel die Teilnahme abgesagt. MSF behauptet, der Gipfel würde nicht die drängenden Fragen angehen. Ist das so?
Für MFS ist das sicherlich so, aber es gibt viele drängende Fragen, wenn es um humanitäre Krisen geht. Es gibt zwei Kernprobleme dabei: Erstens muss man verstehen, dass das humanitäre System immer ein massives Dilemma gehabt hat. Es gibt einerseits die traditionellen Organisationen mit nur einem Mandat, nämlich Menschen in Not zu helfen, wie MSF oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Für sie es wichtig, dass sie Zugang zu den Menschen erhalten und dass die Sicherheit der Menschen, denen sie helfen, aber auch der eigenen Mitarbeiter, so groß wie möglich ist. Diese Organisationen würden niemals die politische Lage der humanitären Krisen, in denen sie arbeiten, bewerten. Das IKRK sagt, wir sind neutral, unparteiisch und unabhängig, und wir arbeiten nur nach dem Grundsatz der Menschlichkeit. Sie nehmen Krieg als gegeben hin. Krieg ist einfach da.
Aber die Krisen, meist Kriege, sind nun einmal große politische Probleme. Dann gibt es andere Organisationen mit einem breiteren Mandat, zum Beispiel Oxfam aus Großbritannien oder in Deutschland Caritas oder Malteser. Sie fragen eher, was passiert mit den Menschen nach der Krise? Oder wie kann die Krise gelöst werden? Das sind genauso drängende Frage wie der Zugang zu den Notleidenden und mehr Sicherheit. Oxfam und Co. versuchen, humanitäre Hilfe mit Entwicklungszusammenarbeit, mit Menschenrechten und manchmal sogar mit Konfliktlösung zu verbinden. Sie versuchen, eine längerfristige Perspektive für die Menschen zu schaffen.
Das Dilemma ist, dass die Schaffung einer längerfristigen Perspektive den Zugang und die Sicherheit vor Ort gefährden kann.
Das Dilemma ist, dass die Schaffung einer längerfristigen Perspektive den Zugang und die Sicherheit vor Ort gefährden kann. Dieses Dilemma ist bislang noch nicht gelöst worden. Es wäre nur möglich, wenn es eine klare Aufgabenteilung gäbe. Die Regierungen der Krisenländer gewähren den Hilfsorganisationen den Zugang und Geldgeberregierungen stellen die notwendigen Gelder dafür bereit, und um die längerfristige Sicherung der Lebensgrundlagen ihrer Bevölkerung kümmern sich die Regierungen, unterstützt durch die Entwicklungsorganisationen. Doch das ist leider Utopie.
Der Bericht des Generalsekretärs, der zur Vorbereitung des Gipfels vorgelegt wurde, löst dieses Dilemma nicht. Ban Ki-moon will eigentlich ein Multi-Mandats-System schaffen. Ich sehe darin große Vorteile, die humanitäre Hilfe mit Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechten und Konfliktlösung sowie mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und dem Sendai-Rahmen für Katastrophenvorsorge zu verbinden.
Aber für MSF sind das nicht die Kernanliegen. Die Ärzte machen sich Sorgen über Zugang und Sicherheit, dass die Krankenhäuser bombardiert werden – in Afghanistan, in Syrien und im Jemen. Im Vorfeld des Gipfels rückt jetzt dieses langjährige ungelöste Dilemma in den Vordergrund.
Zweitens hat zur Vorbereitung des Gipfels ein mehrjähriger Konsultationsprozess stattgefunden. Zehntausende von Personen haben weltweit auf regionalen Treffen und online ihren Input gegeben. Da waren die Hauptthemen humanitäre Hilfe und Effektivität. Der Generalsekretär hat einen weiteren Aspekt in die Debatte eingebracht die „collective responsibility for humanity“: Wie sollte eine kollektive Antwort auf humanitäre Krisen aussehen? Wie kann man weltweit Krisen vorbeugen? Wie wichtig sind die SDGs in humanitären Krisen? Können wir mehrjährige Finanzierungsinstrumente einrichten? Können die Geber mehr Gelder für diese Arbeit bereitstellen?
Die nichtstaatlichen humanitären Organisationen und andere Akteure haben diese Aspekte nicht so erwartet, sondern eher Reformvorschläge für das humanitäre System, insbesondere für die humanitären UN-Organisationen. So eine Reform gibt es jedoch nicht. Der Vorschlag des Generalsekretärs, ein Multi-Mandats-System zu schaffen, ist an sich nicht schlecht, aber er löst das Dilemma nicht.
Die Staaten scheinen auf dem WHS nicht sehr in die Pflicht genommen zu werden, Katastrophen zu vermeiden, zu bewältigen und dabei das Völkerrecht zu achten. Es sollen bislang auch nur 80 von 193 UN-Mitgliedstaaten teilnehmen. Was steckt dahinter?
Wahrscheinlich haben die Regierungen doch Angst, dass sie dort zu Dingen verpflichtet werden, die sie nicht wollen und dass sie zu stark kritisiert werden. Aber der Gipfel hat noch nicht angefangen, wahrscheinlich werden am Ende doch noch mehr Staaten teilnehmen. Von einem Scheitern mangels Teilnahme zu sprechen, wäre verfrüht.
Da die meisten humanitären Krisen komplexe Ursachen haben, wird immer wieder eine bessere Koordinierung zwischen Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe gefordert. Gibt es hier neue Ideen?
Die humanitären Krisen sind Teil der globalen Nord-Süd-Problematik. Es gibt strukturelle Ungleichheiten zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, die dafür verantwortlich sind, dass es in vielen armen Ländern keine sozio-ökonomische Entwicklung gibt. Dazu gehören Verschuldung, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, Korruption, ungerechte Welthandelsstrukturen etc. UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte im Jahr 2005 in seinem Bericht „In größerer Freiheit“ einen „Deal“ für kollektive Sicherheit zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern vorgeschlagen: Erstere sollten Gelder für Bildung, Gesundheit, Ernährung etc. zur Verfügung stellen, im Gegenzug würden Letztere in ihren Ländern für mehr Sicherheit sorgen, Terrorismus, Korruption etc. vor Ort bekämpfen. Leider wurde dieser Deal nicht umgesetzt.
Wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und menschenrechtlichen Probleme der Welt nicht lösen, werden sich die humanitäre Krisen häufen, länger anhalten und massiver werden.
Klar ist: Wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen und menschenrechtlichen Probleme der Welt nicht lösen, werden sich die humanitäre Krisen häufen, länger anhalten und massiver werden – verstärkt durch Faktoren wie Klimawandel und andauernde gewaltsame Konflikte. Die Vorschläge von Ban Ki-moon lösen weder das Dilemma, das ich gerade beschrieben habe, noch die großen geopolitischen Ungleichheiten.
Der finanzielle Bedarf für die humanitäre Hilfe steigt seit Jahren dramatisch. Für 2016 wird die Rekordsumme von 20 Milliarden US-Dollar gefordert, eine Versechsfachung seit 2005. Wird der Gipfel dieses Problem angehen und neue Finanzierungsinstrumente oder Verpflichtungen schaffen?
Es wird neue Finanzierungsinstrumente geben, mehrjährige, in der Hoffnung damit eine verlässlichere Finanzierung zu erreichen. Diese Instrumente sollen verbunden werden mit etwaigen Instrumenten für die SDGs und den Sendai-Rahmen. In Menschlichkeit investieren ist ja eines der fünf Kernthemen des Gipfels. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel: Die Rücküberweisungen der Emigranten in ihre Heimatländer sollen vereinfacht werden.
Außerdem soll es einen „Grand Bargain“ geben zwischen den Geberregierungen und den humanitären Organisationen. Erstere sollen ihre Bedingungen und administrativen Ansprüche an die Organisationen vereinheitlichen, auch mit Monitoring und Evaluierung. Im Gegenzug sollen Letztere transparenter arbeiten und stärker Rechenschaft ablegen. Wenn das verabschiedet werden würde, wäre dies ein wichtiger Fortschritt. Allerdings löst es die geopolitischen Probleme nicht.
Wird es Vorschläge geben, von freiwilligen Beiträgen zu Pflichtbeiträgen für humanitäre Hilfe zu kommen?
Mehr Gelder für die humanitäre Hilfe sind sicherlich willkommen. Aber nur Selbstverpflichtungserklärungen (pledges) oder Pflichtbeiträge lösen die Probleme nicht. Da die große Mehrheit der Staaten selbst die Pflichtbeiträge zur UN nicht rechtzeitig und vollständig zahlen, wäre dies sicherlich nicht verlässlicher als freiwillige Zahlungen. Sadako Ogata, die ehemalige Flüchtlingshochkommissarin hatte in den neunziger Jahren gesagt, sie hätte lieber freiwillige als Pflichtbeiträge, weil die jedenfalls kommen würden.
Was könnte der Gipfel im besten Fall bringen und was sollte er als kleinstem gemeinsamem Nenner zumindest erreichen?
Der kleinste gemeinsame Nenner wäre der „Grand Bargain“. Im besten Fall, so hoffe ich, wird man auf dem Gipfel zu einem besseren Verständnis des oben erwähnten Dilemmas zwischen den unterschiedlichen Zielsetzungen der Hilfsorganisationen und der Entwicklungsorganisationen kommen. Ich hoffe außerdem, dass die Staaten mehr Gelder bereitstellen und mehr Verantwortung übernehmen, die globalen Ungleichheiten abzubauen und Konflikte zu verhüten.
Der Gipfel ist im Übrigen nur ein Auftakt. Die Staaten und humanitären Organisationen werden Selbstverpflichtungserklärungen abgeben, die sich hoffentlich weitgehend an dem orientieren, was im Bericht des Generalsekretärs steht und die die Kritik von MFS berücksichtigen. Es wird einen Abschlussbericht geben, in dem die „Pledges“ der Staaten und Organisationen für eine spätere Überprüfung der Umsetzung aufgeführt sind.
Die Fragen stellte <link ipg unsere-autoren autor ipg-author detail author anja-papenfuss>Anja Papenfuß.