Das Interview führte Daniel Kopp.

Nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen an diesem Wochenende steht fest, dass es in der zweiten Runde zu einer Wiederholung der Stichwahl von 2017 zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen kommen wird. Letztere hat dabei mit 23,4 Prozent ihr bis dato bestes Ergebnis eingefahren. Was sind die Gründe dafür?

Das Ergebnis des ersten Wahlgangs beschert den Franzosen und Französinnen für die Stichwahl am 24. April in der Tat die Neuauflage des Duells Macron-Le Pen, die eine Mehrheit sich eigentlich gar nicht wünscht. Allerdings kommt dies keineswegs unerwartet.

Emmanuel Macron hat seit 2017 darauf hingearbeitet, an die Stelle der Links-Rechts-Polarisierung in einem pluralen Parteiensystem den dichotomen Gegensatz zwischen einem – von ihm selbst repräsentierten – „progressiven“ Lager und einem Lager der Nationalkonservativen zu setzen, das vor allem von Marine Le Pen vertreten wird; das Lager der Vernunft und der Zukunftsorientierung gegen das Lager der Verschwörungstheorien und Rückwärtsgewandtheit. Dafür hat er moderate konservative Wähler ebenso angezogen wie moderate Linke.

Dies hat zur Erosion der traditionellen Parteien – Republikaner und Sozialisten – geführt und in der Konsequenz dazu, dass politische Alternativen zur von Macron besetzten Mitte nur noch an den extremen Rändern zu finden sind. Macron hat auf diese Polarisierung hingearbeitet mit dem Versprechen, so die extreme Rechte in Schach halten zu können. Das Ergebnis vom vergangenen Sonntag zeigt, dass ihm dies nicht gelungen ist.

Warum nicht?

Zum einen hat Macron zu sehr darauf vertraut, dass er mit dem Rückenwind eines insgesamt guten Managements der Covid-Krise und seiner medialen Präsenz als Staatsmann, der unermüdlich an der Bewältigung des Ukraine-Konfliktes arbeitet, sich einen Wahlkampf sparen kann, in dem er sich mit seinen Kontrahentinnen und Kontrahenten auseinandersetzen muss, und vor allem sich seiner Wählerschaft zuwenden muss. Seine Abwesenheit im Wahlkampf hat das Bild des abgehobenen, arroganten, von seinem Volk entfernten Präsidenten wiederbelebt. Hinzu kommt, dass er angesichts einer kriselnden Linken glaubte, es sich leisten zu können, unpopuläre soziale Reformen wie die Rente ab 65 oder die Konditionierung der Sozialhilfe ins Zentrum seines Programms stellen zu können. Dies hat das Bild des sozial unsensiblen „Präsidenten der Reichen“ verstärkt.

Auf der anderen Seite hat Marine Le Pen ihren Kurs der „Entteufelung“ des Rassemblement National fortgesetzt. Sie hat ihren Ton gemildert und ihre rassistischen und antieuropäischen Positionen hinter einem mehr auf soziale Themen fokussierten Diskurs versteckt. Während ihr rechtsextremer Konkurrent Zemmour mit seinen Hasstiraden und radikalen Forderungen rassistische und autoritäre Positionen im Wahlkampf präsent hielt, konnte sie sich mit einem weniger auf Radikalität setzenden Diskurs als volksnahe Kandidatin, die die alltäglichen Probleme der kleinen Leute aufgreift, anbieten.

Dass Marine Le Pen dies in nicht geringem Maße gelungen ist, zeigen Umfragen, die sie mit weitem Vorsprung vor Macron als die Kandidatin ausweisen, von der angenommen wird, dass sie die Probleme der normalen Bürgerinnen und Bürger am ehesten versteht. Diese „Volksnähe“ spiegelt sich nun auch im Wahlergebnis wider: Während Macron überdurchschnittlich von leitenden Angestellten und Rentnern und Rentnerinnen sowie Personen mit einem Einkommen von über 3000 Euro gewählt wurde, sind es bei Le Pen vor allem die einfachen Angestellten und die Arbeiterschaft sowie Personen mit einem Einkommen unter 3000 Euro.

Inwiefern unterscheidet sich die Neuauflage des Duells Macron-Le Pen von der Wahl 2017?

Die Situation ist heute keineswegs identisch mit der von 2017. Erscheint Macron mit einem Stimmenzuwachs von 3,6 Prozent gegenüber 2017 auf den ersten Blick sogar gestärkt, ist seine Situation vor dem zweiten Wahlgang nun doch deutlich schwächer als vor fünf Jahren. Auch Marine Le Pen hat ihren Stimmenanteil von 2017 leicht verbessern können, dies trotz der Konkurrenz von Éric Zemmour. Und sie geht heute, anders als 2017, nicht isoliert in die Stichwahl. Im Gegenteil, sie scheint gegenüber Emmanuel Macron sogar über die größeren Stimmreserven zu verfügen.

Sowohl Zemmour als auch der Souveränist Dupont-Aignan, auf die zusammen immerhin neun Prozent der Stimmen entfallen sind, haben dazu aufgerufen, im zweiten Wahlgang Le Pen zu wählen. Macron ist dagegen in der delikaten Situation, einerseits nicht die Wähler der republikanischen Rechten verprellen zu dürfen und andererseits eine Geste an die Linke machen zu müssen. Denn dort liegt das entscheidende Stimmenpotenzial für eine „republikanische Front“ gegen Le Pen.

Ob die Wähler der Republikaner dem Aufruf ihrer gedemütigten Kandidatin Valérie Pécresse folgen und im zweiten Wahlgang für Macron stimmen werden, ist keineswegs ausgemacht. Sicherer sind ihm da schon eher die Stimmen aus dem Lager der Grünen und der Sozialisten, deren Kandidatinnen und Kandidaten ebenfalls zur Stimmabgabe für Macron aufgerufen haben; aber deren Stimmenpotenzial ist mit nicht einmal sechs Prozent sehr gering.

Daher kommt es vor allem auf die gut 20 Prozent Wählerinnen und Wähler an, die für den Kandidaten der radikalen Linken Jean-Luc Mélenchon gestimmt haben. Zwar hat Mélenchon am Wahlabend eindringlich aufgerufen, auf keinen Fall für Marine Le Pen zu stimmen, aber er hat andererseits auch keine Empfehlung für Macron abgegeben. Nach einer aktuellen Umfrage ist seine Wählerschaft mit Blick auf die Stichwahl gespalten: 30 Prozent tendieren zu Le Pen, 34 Prozent zu Macron und 36 Prozent neigen zur Stimmenthaltung.

Man fragt sich natürlich: Wieso kann die rechtsextreme Marine Le Pen eine Option für Wählerinnen und Wähler der radikalen Linken sein? Das liegt einerseits an der erwähnten Selbstinszenierung Le Pens als „normale“ Kandidatin, die für soziale Gerechtigkeit stehe, oder – angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine – als „Kandidatin für die Kaufkraft“.

Zum anderen liegt es an der tiefen Aversion, die Macrons Politik bei den linken Wählern, insbesondere denen aus den sogenannten „populären Schichten“, geschaffen hat. Etwa 60 Prozent der einfachen Angestellten und Arbeiter sowie über 50 Prozent der Personen mit einem Einkommen unter 2000 Euro haben entweder Le Pen oder Mélenchon gewählt. Sie eint dasselbe Empfinden, dass Macrons Politik zu ihren Lasten gehe. Statt zur Formierung einer „republikanischen Front“ gegen Le Pen könnte es im zweiten Wahlgang so auch zu einem „Referendum gegen Macron“ kommen.

Jüngste Umfragen deuten auf ein Tête-à-Tête zwischen Macron und Le Pen hin. Welche Konsequenzen hätte das für Frankreich und Europa, wenn wir am Ende eine Präsidentin Le Pen an der Spitze Frankreichs haben würden?

Für Europa wäre eine Präsidentin Marine Le Pen an der Spitze der französischen Republik eine Tragödie. Zwar hat sie viele ihrer anti-europäischen Positionen wie einen „Frexit“ oder einen Austritt Frankreichs aus der Währungsunion gezügelt und teils revidiert – dies vor allem, weil diese Forderungen keineswegs von der Gesamtheit ihrer Wählerschaft mitgetragen werden. Dennoch hält sie an einem europakritischen Kurs fest. Statt für eine Stärkung der europäischen Integration wirbt sie für ein „Europa der Nationen“. Französisches Recht will sie wieder über europäisches stellen und Frankreichs Beitrag zur Finanzierung des EU-Haushalts will sie verringern. Auch eine gemeinsame, solidarische europäische Migrationspolitik wäre mit ihr nicht zu machen.

Hinzu kommt, dass sie in außen- und verteidigungspolitischen Fragen unzuverlässig ist. Noch im Dezember äußerte sie, die Ukraine gehöre der Einflusssphäre Russlands an. Ihren Wahlkampf hat sie unter anderem mit einem Kredit einer russischen Bank finanziert. Und gerade jetzt, wo die Bedeutung der NATO für Europas kollektive Sicherheit deutlicher denn je geworden ist, hält sie an einer NATO-kritischen Position fest. Frankreich mit einer Präsidentin Le Pen würde Europa in einem essenziellen Moment enorm schwächen.

Die sozialdemokratische Parti Socialiste und ihre Kandidatin Anne Hidalgo hat nach dem historisch schlechten Ergebnis von 2017 nun sogar nur 1,7 Prozent der Stimmen erhalten. Das bedeutet, dass die Partei die Wahlkampfmittel nicht vom französischen Staat zurückerstattet bekommt. Wie ist es nun um die Zukunft der Partei bestellt?

Das Wahlergebnis ist nicht nur eine Schmach für die Partei, sondern stellt ihr Überleben als politische Kraft in Frage. In der Tat wird die PS nicht von der staatlichen Erstattung der Kosten für den Wahlkampf profitieren können. Damit wird die schon seit 2017 prekäre Finanzlage noch problematischer.

Schwerer wiegt aber die Zerstrittenheit der PS selbst in dieser für die Partei lebensbedrohlichen Situation. Eine klare strategische und programmatische Ausrichtung ist derzeit nicht erkennbar. Während die Kandidatin Anne Hidalgo mit einem klassisch sozialdemokratischen Programm auch um die 2017 an Macron verloren gegangene Wählerschaft warb, pflegte die Partei eher einen Diskurs, der sich an die Wählerinnen und Wähler richtete, bei denen sie in Konkurrenz zu den Grünen oder Mélenchons La Françe Insoumise steht. Und während einige schon vor dem Wahltag über die Neuformierung eines sozialdemokratischen Pols sinnierten, erneuerte der Parteivorsitzende Olivier Faure seinen Aufruf zu einer großen linken Vereinigung – und richtete sich damit insbesondere an die Grünen und die Kommunisten.

Realität ist aber, dass mit diesem Wahlergebnis die sozialdemokratische Linke Frankreichs zu einer Randgröße der politischen Landschaft degradiert wurde. Als dominierende, wenn nicht gar hegemoniale Kraft hat sich die radikale Linke Mélenchons etabliert. Während auf Mélenchon 22 Prozent der Stimmen entfielen, kamen die restlichen Kandidatinnen und Kandidaten der Linken zusammen nur auf acht Prozent! Mélenchon ist es auch gelungen, mit seinem pôle populaire eine linke Alternative zu der Polarisierung zwischen Progressismus macronscher Prägung und dem nationalkonservativen Lager sichtbar zu machen.

Sicherlich haben viele ihn aus eher pragmatischen Überlegungen gewählt, um die Linke in die Stichwahl zu bringen, und sind nicht unbedingt überzeugte Anhängerinnen und Anhänger Mélenchons. Auch steckt sicherlich eine gute Portion Romantik einer sich nach Einheit sehnenden Linken hinter der Wahlentscheidung für Mélenchon. Aber vorerst hat sich erstmal das Bild festgesetzt, dass die radikale Linke die pulsierende Kraft ist, die gerade auch mit Blick auf die im Juni anstehenden Parlamentswahlen die Dynamik im linken Lager bestimmen wird.

Zudem ist anzuerkennen, wie es die Schriftstellerin Annie Ernaux formuliert hat, dass Mélenchon das junge Frankreich verkörpert. In der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen hat er etwa ein Drittel der Stimmen erhalten. Auch ist es ihm gelungen, anders als den Sozialisten, soziale und ökologische Fragen gleichermaßen glaubwürdig zu vertreten. Das macht die Situation für die PS nicht einfacher.

Die traditionelle konservative Kraft Frankreichs Les Républicains – die 2017 noch an der zweiten Runde kratzten – haben nun den niedrigsten Stimmenanteil seit Beginn der Fünften Republik erhalten. Ist damit der Zerfall des traditionellen französischen Parteiensystems nun abgeschlossen?

Die Neuordnung des französischen Parteiensystems ist zumindest in ein neues Stadium getreten. Der Zerfall der traditionellen Parteien hat sich vorerst fortgesetzt. Hatten diese lange Zeit das politische Geschehen der Fünften Republik dominiert, kommen sie heute zusammen nicht einmal mehr auf sieben Prozent der Stimmen. Ob sie sich von diesem Schlag zu erholen vermögen, bleibt abzuwarten.

Die tektonischen Verschiebungen in der Parteienlandschaft, die seit 2017 wirken, sind auf jeden Fall noch nicht zum Abschluss gekommen. Hatte sich zunächst das Duopol zwischen Progressiven und Rechtspopulisten etabliert, ist nun mit Mélenchons Union populaire ein neuer Pol am linken Rand hinzugekommen. Wie stabil diese dreipolige Konstellation ist, bleibt abzuwarten. Für die Demokratie problematisch ist sie allemal. Denn Alternativen zum „progressiven“ Zentrum finden sich nur noch an den extremen Polen.