Können die Präsidentschafts-und Parlamentswahlen in der Türkei am 24. Juni noch überraschen, oder muss man sich auf einen nunmehr als Staatsoberhaupt und Regierungschef gestärkten Recep Tayyip Erdoğan einstellen?

Bei diesen Wahlen scheint erstmalig alles möglich zu sein. Schien es zu Beginn des Wahlkampfes nach den überraschend vorgezogenen Wahlen ausgemacht zu sein, dass sowohl die Regierungspartei AKP als auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen ungefährdeten Sieg einfahren werden, ist dies nun auf der Zielgeraden nicht mehr ganz so selbstverständlich. Die Umfragen sagen ein knappes Rennen bei den Präsidentschaftswahlen voraus. Erdoğan braucht über 50 Prozent  der Stimmen im ersten Wahlgang, was sehr knapp zu werden scheint. Erreicht er die 50 Prozent nicht, wird es zu einer Stichwahl am 8. Juli kommen. Für diesen Fall haben die Oppositionsparteien bereits angekündigt, dass sie sich gemeinsam auf den Stärksten ihrer Kandidaten einigen werden. Dann könnte es tatsächlich eng werden für Erdoğan, denn bislang haben die Oppositionsparteien einen mehr oder weniger fehlerfreien Wahlkampf geführt und man spürt so etwas wie eine Aufbruchsstimmung im Lande. Im Gegensatz zu den früheren Wahlkämpfen wirkt Präsident Erdoğan bei seinen Auftritten eher Müde und abgekämpft, während sein wichtigster Gegner Muharrem Ince von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP sehr viel dynamischer und frischer auftritt.

 Welche Themen haben im Wahlkampf eine Rolle gespielt? Wie hat sich die Opposition aufgestellt?

Für die meisten Wähler sind die ökonomischen Themen die wichtigsten. Die hohen Inflationsraten, die steigende Jugendarbeitslosigkeit sind in allen türkischen Familien unmittelbar spürbar. Während die AKP immer wieder auf ihre vergangenen Leistungen in der Wirtschaft mit den hohen Investitionen in der Infrastruktur verweist, stellt die Opposition die Risiken dieser auf Pump finanzierten Wachstumsstrategie in den Vordergrund. Auch die massenhaften Entlassungen nach dem Putschversuch von 2016 im öffentlichen Sektor sowie die vielen Verhaftungen spielen eine wichtige Rolle. Daneben ist die Terrorbekämpfung, sowohl gegen die PKK als auch gegen den Islamischen Staat, ein wesentliches Wahlkampfthema. Die Opposition hat unterschiedliche Antworten auf diese Fragen anzubieten. Während die CHP sich im Wesentlichen mit Bürgerrechten, Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Abbau der gesellschaftlichen Spaltung profiliert, setzt die aus der nationalkonservativen MHP hervorgegangene Iyi Partei, Gute Partei, vor allem auf Themen der inneren Sicherheit. Die kurdennahe HDP, deren Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen muss, engagiert sich stark für das Thema soziale Gerechtigkeit und Ausgleich unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

 Auch das Parlament wird neu gewählt. Welche Veränderungen würde eine Machtverschiebung hier vor dem Hintergrund des neuen Präsidialsystems bedeuten?

Wenn es der HDP gelingt, die 10 Prozent Hürde zu überspringen und sie damit ins Parlament einzieht, kann es gut sein, dass die Oppositionsparteien eine Mehrheit gegen das konservative Lager, bestehend aus AKP und MHP, bilden. Damit dürfte es für einen wiedergewählten Präsidenten Erdoğan sehr viel schwieriger werden, seine Machtfülle auch ungehindert auszuspielen. Grundsätzlich wird das Parlament zwar im Zuge der Transformation zum Präsidialsystem eine schwächere Rolle spielen als zuvor, aber dennoch kann ein von der Opposition dominiertes Parlament wichtige Gesetzesvorhaben blockieren. Dann wird die Frage bedeutsam werden, ob sich der ohnehin bereits mit hoher Machtfülle ausgestattete Präsident über das Parlament hinwegsetzt, indem er z.B. den seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustand einfach weiter beibehält und per Dekret regiert.

Viele Erdoğan -Unterstützer, auch in Deutschland, haben gerne über Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen, weil das Land unter ihm einen steten wirtschaftlichen Aufschwung nahm. Kritiker sehen dieses Wachstum auf Pump finanziert, auch die türkische Währung schwächelte zuletzt stark. Wird das Einfluss auf die Wahlen haben, oder sind das Probleme der Zukunft, die so noch keine Rolle spielen?

Die sich am Horizont abzeichnenden wirtschaftlichen Probleme spielen durchaus im Wahlkampf eine Rolle. Vor allem die Inflation von zuletzt etwa 12 Prozent spürt jeder in seinem Geldbeutel. Der rapide Verfall der türkischen Lira wird diese Inflation noch weiter anheizen. Die zur Bekämpfung der Inflation sowie des Währungsverfalls notwenige Zinserhöhung wird die oftmals stark verschuldeten privaten Haushalte zusätzlich belasten. Von dem Erdoğans anfänglicher Politik zugeschriebenen, langanhaltenden Aufschwung hatten vor allem die unteren und mittleren Einkommensgruppen ursprünglich profitiert. Allerdings verblassen diese Leistungen mittlerweile immer mehr und an ihre Stelle treten eher die Probleme zutage, die eine nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Wirtschaftspolitik mit ihren großen strukturellen Ungleichgewichten erzeugt hat.

Die Fragen stellte Hannes Alpen.