Die Fragen stellten Joscha Wendland und Nikolaos Gavalakis.
Die Parlamentswahlen in Südkorea können als Zufriedenheitsbarometer für die regierende People Power Party (PPP) des Präsidenten Yoon Suk Yeol gesehen werden. Die oppositionelle Democratic Party of Korea (DPK) konnte bei der Wahl nun einen deutlichen Sieg einfahren. Wie ist das Ergebnis zu bewerten?
Mit dem überwältigenden Sieg der DPK wird es für den Staatspräsidenten noch schwerer, sein geplantes Reformprogramm umzusetzen. Er wird bis zum Ende seiner Legislaturperiode 2027 als Lame Duck große Schwierigkeiten haben, die Modernisierung des Gesundheitswesens, die geplante Arbeitsmarktreform, die Rentenreform sowie die Erneuerung des Bildungswesens umzusetzen. Die DPK verfügt nun mit ihren 175 gewonnenen Sitzen über eine sehr komfortable Mehrheit im 300 Sitze umfassenden Parlament. Aber da sie die Zweidrittelmehrheit verfehlt hat, kann sie kein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten ohne Stimmen der Regierungspartei einleiten. Auch die Möglichkeit, Gesetze im Parlament gegen den Willen der PPP einfach durchzuwinken, bleibt ihr verwehrt.
Der Vorlauf zu den Wahlen wurde teilweise vom Attentat auf den Oppositionsführer der DPK, Lee Jae Myung, im Januar überschattet. Dieser steht wiederum wegen Bestechung und anderen Straftaten vor Gericht. Hat dies beim Urnengang eine Rolle gespielt?
Das Messerattentat auf Lee Jae Myung in Busan hatte zumindest für eine Weile den sehr aggressiv geführten Wahlkampf friedlicher werden lassen. Der Präsident wünschte ihm umgehend eine rasche Genesung. Im Vorfeld der Wahlen war es nirgendwo zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen. Die Koreaner, die lange für ihre Demokratie kämpfen mussten und die die Militärregierung erst mit der Sechsten Republik 1987 überwinden konnten, sind stolz auf die jetzige Verfasstheit ihres Landes. Die mit 67 Prozent höchste Wahlbeteiligung seit 32 Jahren zeigt, dass trotz vereinzelter Tendenzen von Demokratiemüdigkeit das Interesse an politischer Beteiligung weiterhin hoch ist.
Die Vorwürfe wegen Bestechung und Korruption gegen Lee spielten im Wahlkampf durchaus eine Rolle und wurden immer wieder von der Gegenseite thematisiert. Aber auch gegen Präsident Yoon Suk Yeol wurden immer wieder Vorwürfe erhoben, obwohl dieser ja gar nicht selbst zur Wahl stand. Vor allem seine Frau sowie Beamte aus seiner Administration standen im Zentrum von Bestechungsvorwürfen sowie von Vorwürfen der Vorteilsnahme im Amt. Bezüglich der Aufstellung der Kandidatenlisten wurden gegen die Parteiführer der beiden großen Parteien, Lee Jae Myung von der DPK und Han Dong-hoon von der PPP, heftige Vorwürfe vorgebracht, nur ihnen nahestehende Kandidatinnen und Kandidaten zu berücksichtigen. Tatsächlich konnten beide ihre Machtbasis während des Auswahlprozesses parteiintern festigen. Auch in Korea nimmt der Verdruss über die politische Klasse aufgrund der vielen Skandale, der Gerichtsverfahren gegen einzelne Politiker und der heftigen parteiinternen Streitigkeiten während des Vorwahlkampfes in einigen Bevölkerungskreisen daher weiter zu.
Das klassischerweise von zwei Parteien dominierte politische System bekam kurz vor den Wahlen Zulauf mit der neu gegründeten Rebuilding Korea Party (RPK) des ehemaligen Justizministers Cho Kuk. Mit zwölf Sitzen konnte dieser ein mehr als respektables Ergebnis einfahren. Ein Zeichen für die Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment im Land?
Ja, die Rebuilding Korea Party wurde erst Anfang März 2024 gegründet und lag bereits Ende des Monats in Umfragen mit 29 Prozent der Stimmen sogar vor den „großen“ Parteien an erster Stelle in der Wählergunst. Dies kann als ein phänomenaler Aufstieg gewertet werden. Allerdings hatte sie nur Listen- und keine Direktkandidaten aufgestellt. Daher hätte sie von den insgesamt 300 Sitzen maximal diejenigen 46 Sitze erringen können, die nach dem Verhältniswahlrecht vergeben wurden. Im Ergebnis hat sie sich mit zwölf dieser Sitze beachtlich geschlagen.
Selbst einen militärischen Erstschlag gegen den Norden hatte Yoon im Wahlkampf als Option genannt.
Geführt wird die Partei vom ehemaligen Justizminister Cho Kuk, der Mitglied der letzten Regierung war, aber aufgrund von Skandalen innerhalb seiner Familie zurücktreten musste. Als wichtigstes Wahlziel forderte die Partei im Wahlkampf das Ende der „diktatorischen Regierung von Staatsanwälten“ und stellte sich damit direkt gegen die Regierung von Präsident Yoon. Entsprechend betrachtet die regierende PPP die RPK als eine Satellitenpartei des Wahlgewinners DPK und erwartet, dass sie sich nach der Wahl auflösen wird und die gewählten Abgeordneten über kurz oder lang zur DPK wechseln werden. Sowohl der Parteivorsitzende der RPK, Cho Kuk, als auch der Chef der DPK, Lee Jae Myung, bestreiten diese Anschuldigungen und behaupten, dass sie lediglich zusammenarbeiten werden. Und eigentlich benötigt die DPK nach diesem überzeugenden Wahlsieg auch keine zusätzlichen Mandate. Einen Fraktionsstatus konnte die RPK nicht erreichen, da sie dafür mehr als 20 Mandate hätte erringen müssen. Es bleibt abzuwarten, ob es zu einer Wanderung von Abgeordneten zur DPK kommen wird. Außerdem ist es durchaus möglich, dass beim derzeit gegen Cho Kuk laufenden Gerichtsverfahren dieser letztinstanzlich zu einer Haftstrafe verurteilt wird und er deshalb seinen Sitz im Parlament verliert. Parteivorsitzender könnte er allerdings auch nach einem Schuldspruch bleiben.
In den letzten Wochen und Monaten provozierte Nordkorea mit Kriegsrhetorik und Artillerieübungen. Kim Jong-un hat zuletzt nicht nur einer Wiedervereinigung eine Absage erteilt, sondern zudem Südkorea zum „unverrückbaren Hauptfeind“ erklärt. Wie wird dieser Kurswechsel in Seoul bewertet?
Die Spannungen zwischen den beiden Staaten haben tatsächlich in jüngster Zeit weiter zugenommen. Aber einen fundamentalen Kurswechsel auf Seiten Nordkoreas kann ich nicht erkennen. Auch wenn die Wiedervereinigung nun nicht mehr als offizielles Ziel verfolgt wird, existiert die Feindschaft bereits seit der Teilung des Landes 1945 in zwei Besatzungszonen. Auch die Kriegsrhetorik, Artillerieübungen sowie Raketentests sind keine neue Erscheinung, sondern bilden ein Kontinuum in der spannungsgeladenen Geschichte Koreas. Der südkoreanische Präsident Yoon hatte gleich nach seinem Amtsantritt 2022 für die Beziehungen zum Bruderstaat im Norden eine gänzlich neue Richtung und eine verschärfte Gangart angekündigt. Der Politik der Annäherung seines Vorgängers Moon hatte er eine Absage erteilt. Selbst einen militärischen Erstschlag gegen den Norden hatte Yoon im Wahlkampf als Option genannt. Insofern sind beide Seiten für die jetzige Eskalation verantwortlich.
Das politische System Südkoreas ist für eine starke Präsidentschaft bekannt. Präsident Yoon Suk Yeol steht für eine Annäherung an die USA. Wird die Verschiebung im Parlament die Außenpolitik überhaupt merkbar beeinflussen können?
Außenpolitische Differenzen bestehen vor allem in der Frage des Umgangs mit Japan und dessen problematischer Vergangenheit als Kolonialmacht Koreas. Die DPK besteht weiterhin auf einer aufrichtigen Entschuldigung Japans für das verursachte Leid, zum Beispiel bezüglich der damals erlittenen Zwangsprostitution der sogenannten „Trostfrauen“. Erst dann könne es zu einer wirklichen Annäherung zwischen den beiden Ländern kommen. Außerdem wird das inzwischen in den Pazifik eingeleitete radioaktiv belastete Löschwasser aus der Fukushima-Atomkatastrophe von über 80 Prozent der koreanischen Bevölkerung als Gefahr für das Land gesehen. Hier wird von Seiten der DPK der Yoon-Regierung vorgeworfen, viel zu nachsichtig gegenüber Japan zu sein. Auch der geplante trilaterale Gipfel von Japan, den USA und Südkorea wird von Teilen der DPK kritisch gesehen. In der Nordkoreapolitik steht die DPK für mehr humanitäre Hilfen und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Norden.
Das Verhältnis zu den USA hingegen wird eher von den Wahlen in Amerika selbst abhängen. Es stimmt zwar, dass Yoon für eine weitere Annäherung an die USA steht, aber die Beziehungen waren ja – trotz diverser Differenzen in Einzelfragen – nie wirklich problematisch. Trotz gelegentlich anderslautender Rhetorik werden die Vereinigten Staaten als unverzichtbare Schutzmacht für die Interessen Südkoreas in einer volatilen Region von fast allen politischen Lagern in Südkorea anerkannt.