Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Im Umgang mit dem Ukraine-Krieg versucht Israel eine Gratwanderung zwischen dem Westen und Russland. Die israelische Regierung hat beschlossen, keine Waffensysteme an die Ukraine zu liefern. Finden Sie diese Entscheidung richtig?

Israel bewegt sich nicht nur in der Frage möglicher Waffenlieferungen auf einem schmalen Grat, sondern auch hinsichtlich der Bereitschaft, sich den Sanktionen anzuschließen und sie so durchzusetzen wie andere westliche Staaten. Das Thema Waffenlieferungen – konkret geht es um Drohnen- und Luftabwehrsysteme – ist akut, seit Russland in der Ukraine insbesondere iranische Drohnen als Kriegswaffe einsetzt. Dadurch wurde Israel zum maßgeblichen Teil der Lösung. Es gibt natürlich gewichtige Gründe, die einerseits gegen und andererseits für die Lieferung solcher Waffen sprechen. Unter dem Strich bin ich jedoch der Meinung, dass Israel trotz aller Risiken Abwehrsysteme an die Ukraine liefern sollte unter der Voraussetzung, dass sie nur zum Schutz ziviler Ziele eingesetzt werden.

Was bringt Sie zu dieser Meinung?

Erstens hat die Verteidigung der Zivilbevölkerung oder der lebenswichtigen Infrastruktur wie etwa der Energieversorgung in der Ukraine eine moralische Dimension. Wir sprechen hier nicht über die Belieferung der Ukraine mit Gefechtsausrüstung oder tödlichen Waffen. Es geht darum, dass die Ukraine in der Lage sein muss, bestimmte Grundwerte zu schützen und vor allem den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Zweitens ist der Krieg in der Ukraine zum Prüfstein geworden in der Frage, welche Länder zur Gemeinschaft der liberalen Demokratien zählen. Deshalb liegt es im langfristigen Interesse Israels, in Zeiten der Not seinen Mehrwert einzubringen. Das kann wesentlich dazu beitragen, das Verhältnis zu seinen strategischen Verbündeten im Westen und besonders zu den USA zu erhalten.

Andere Stimmen verweisen auf die russische Präsenz in Syrien und geben zu bedenken, Israel müsse sehr vorsichtig agieren, weil es auf die Kooperation mit den Russen angewiesen sei. Lassen Sie dieses Argument gelten?

Dass die Russen Israels Handlungsfreiheit in Syrien beeinträchtigen, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch erstens ist es schon vorgekommen, dass Russland versucht hat, Israels Aktionsspielräume in Syrien einzuschränken, und Israel seine Operationen trotzdem weiterführen konnte. Zweitens denke ich, dass die Russen sich nicht übernehmen wollen, indem sie neben dem Krieg in der Ukraine die Spannungen gegenüber Israel verstärken. Das dürfte für Russland eine Baustelle zu viel sein. Drittens wäre es für Israel auf lange Sicht wohl nicht vorteilhaft, wenn der Eindruck entstünde, dass es für russischen Druck empfänglich ist oder sich diesem Druck beugt. Dies könnte Russland dazu verleiten, in Zukunft mehr Druck auszuüben. Deshalb ist die Diskussion, dass wir unsere Unterstützung für die Ukraine nicht auf militärische Abwehrsysteme ausweiten dürfen, um keine Vergeltungsmaßnahmen der Russen in Syrien zu provozieren, in meinen Augen nicht so entscheidend.

Was ist mit der israelischen Technologie? Könnte es nicht dazu kommen, dass die Waffen den Russen und schließlich dem Iran in die Hände fallen? Manche befürchten, der Iran könnte die Technologien nachbauen und für die Entwicklung der nächsten Raketengeneration nutzen, mit der er dann die israelischen Verteidigungssysteme umgehen könnte.

Die Sorge ist berechtigt. Man sollte ihr dadurch begegnen, dass man den exponierten Einsatz dieser Systeme in Kriegsgebieten begrenzt. Unter operativen Gesichtspunkten liegt hier allerdings auch eine Chance. Indem die Iraner sich eingeschaltet haben und den Russen den Großteil ihrer Drohnen liefern, geben sie Israel auch die Möglichkeit, wertvolle Erkenntnisse über den möglichen nächsten iranischen Angriff zu gewinnen. Zum wahrscheinlichsten Bedrohungsszenario eines künftigen Konflikts – zwischen Israel und dem Iran, Israel und der Hisbollah oder Israel und der Hamas – gehört der massive Einsatz solcher Drohnen gegen Zivilisten, Infrastruktur und andere strategische Ziele in Israel. Deshalb ist die Möglichkeit, die Wirksamkeit der israelischen Abwehrsysteme gegen iranische Drohnenangriffe zu untersuchen, ziemlich wichtig. Die Ukraine ist zum Testfeld für Systeme geworden, die bei der nächsten Konfrontation zwischen Israel und dem Iran und seinen Stellvertretern wahrscheinlich eine Rolle spielen werden.

Viele sehen diesen Krieg nicht als isolierten Einzelfall, sondern als das erste Ereignis in einer ganzen Kette von Ereignissen.

Sollte Israel sich durch die Tatsache, dass der Iran die Russen militärisch unterstützt, in seiner Haltung zum Ukraine-Krieg beeinflussen lassen?

Wenn Israel der Ukraine Abwehrsysteme liefert, mit denen sie sich gegen Russland verteidigen kann, übernimmt es im Prinzip eine führende Rolle bei dem Versuch, das Leben von Zivilisten sowie die zivile Infrastruktur gegen eine gemeinsame Bedrohung auch durch den Iran zu schützen. Damit wird Israel Teil einer westlichen Koalition, die nicht nur gegen eine aus unserer Sicht eklatante Völkerrechtsverletzung durch die Russen kämpft, sondern auch gegen den gezielten Versuch Irans, neue Waffensysteme salonfähig zu machen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, weil wir es nicht nur mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu tun haben, sondern weil Israel sich sehr intensiv bemüht, die internationale Staatengemeinschaft für seinen Umgang mit dem Iran zu gewinnen. Neben dem iranischen Atomprogramm gibt es ja für Israel und die umliegenden Länder in der Region noch diverse konventionelle Bedrohungen durch den Iran und seine Stellvertreter.

Wenn wir unsere Systeme, die wir speziell zur Abwehr der iranischen Bedrohung entwickelt haben, zum Einsatz bringen und damit Zivilisten und die zivile Infrastruktur in der Ukraine verteidigen – gegen die gleiche Bedrohung, wie sie vom Iran ausgeht –, hat das einen hohen politischen Stellenwert. Es sendet eine klare Botschaft an die internationale Staatengemeinschaft, dass der destabilisierende militärische Einfluss des Iran ein globales Problem ist, das von Kiew über Beirut bis zum Roten Meer reicht. Wenn man den politischen und den operativen Nutzen miteinander verknüpft und die Gefahr, dass diese Systeme in russische Hände geraten, einigermaßen minimieren kann, ist die Lieferung israelischer Abwehrsysteme an die Ukraine meiner Meinung nach überlegenswert. Ich spreche hier aber nur über Luftabwehrsysteme für den Einsatz im Umfeld ziviler Schwerpunkte und nicht über Angriffskapazitäten.

Israel bekommt sehr wahrscheinlich schon bald eine weit rechts stehende Regierung unter der Führung von Benjamin Netanjahu. Erwarten Sie, dass Israels Haltung zu dem Konflikt sich dadurch verändern wird?

Wir erleben einen Kampf der Diskurse zwischen Rechts und Links, bei dem es nicht nur um Außenpolitik, sondern auch um Innenpolitik geht – um die Werte, die Israels Regierung der Welt gegenüber, aber auch nach innen vermitteln will. Dass Netanjahu in der Vergangenheit engen Kontakt mit Putin gepflegt hat, ist allgemein bekannt. Im Wahlkampf 2021 wurde dieses enge Verhältnis sogar als einer seiner wichtigen Pluspunkte herausgestellt, weil es Netanjahu als „Regierungschef aus einer anderen Liga“ ausweist und zeigt, dass er in der Lage ist, mit Putin zusammenzuarbeiten und die Früchte der Zusammenarbeit in Syrien zu ernten. Das setzte sich auch fort, als Netanjahu nicht mehr an der Regierung war. Rechte Politikerinnen und Politiker wie die frühere Innenministerin Ajelet Schaked forderten ausdrücklich, man dürfe die Spannungen mit Russland nicht verschärfen. Jair Lapid fuhr als Regierungschef und als Außenminister dann einen anderen Kurs. Er bezog viel entschiedener Position gegen die russische Invasion und die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland und hatte auch eine andere Position in der Sanktionsfrage. Damit stand er für eine grundsätzlich andere Haltung.

Was wir erleben, sind im Grunde zwei unterschiedliche außenpolitische Ansätze. Das realpolitische Lager ist der Meinung, Israel könne es sich nicht leisten, sich außenpolitisch von moralischen Argumenten leiten zu lassen. Im Mitte-links-Lager wird der Stellenwert der Moral ganz anders diskutiert. Viele sehen diesen Krieg nicht als isolierten Einzelfall, sondern als das erste Ereignis in einer ganzen Kette von Ereignissen, die uns in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren bevorstehen und die von zunehmenden Spannungen zwischen dem liberalen Westen und nichtdemokratischen Kräften geprägt sein werden. Bei der Frage, wie man mit dem Krieg in der Ukraine umgeht, werden auch Israels Identität und seine Rolle in den Reihen der liberalen Demokratien verhandelt. Es geht nicht nur um Russland und auch nicht nur um die Ukraine. Wenn ich über die Lieferung von Abwehrsystemen an die Ukraine spreche, spielt für mich noch eine andere Frage eine Rolle: Wie gestalten wir eine positive und aktive Rolle Israels im Kreise der freiheitlichen Demokratien? In diesem Zusammenhang ist Moral ein Interesse, das wir gegen andere Interessen abwägen können.

Lesen Sie in dieser Debatte auch den Beitrag von Daniel Rakov, der letzte Woche im IPG-Journal erschienen ist.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld