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Das Interview führte Benjamin Schreiber.

Wie wichtig ist das Rentenreform-Projekt für die politische Vision Emmanuel Macrons?

Das Reformvorhaben, das auf ein sogenanntes universelles Rentensystem abzielt, wurde bereits im Wahlkampf 2017 thematisiert. Da überrascht es nicht, wenn Emmanuel Macron diese Reform weiter vorantreibt. Ursprünglich sollten damit – wir erinnern uns – die Sonderstellungen dutzender privilegierter Berufsgruppen (Angestellte der staatlichen Eisenbahn, der Pariser Verkehrsbetriebe, des Erdgaskonzerns Gaz de France, Rechtsanwälte, Notare ...) korrigiert werden. Ziel war es, bis 2025 ein einheitliches Rentensystem in Frankreich zu schaffen.

Welche Auswirkungen hat der Verlauf der Debatte zur Rentenreform auf Macrons Image als „Präsident der Reformen“?

Die Beharrlichkeit, mit der Emmanuel Macron und seine Regierung ihr Ziel trotz der Proteste von Hunderttausenden von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen seit Anfang Dezember 2019 verfolgen, entspricht ganz dem reformistischen Stil des französischen Präsidenten. Die Verkörperung der „neuen Welt“ – um die Worte von Emmanuel Macron aufzugreifen – bestand darin, sich die Agenda und den Rhythmus der Reformen nicht von der Straße diktieren zu lassen. Nachdem es ihm in den ersten Monaten seiner Amtszeit trotz der Proteste gelungen war, das Arbeitsrecht, die Arbeitslosenversicherung und die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF zu reformieren, sollte die Rentenproblematik in Angriff genommen werden.

Ein solches Tempo vorzulegen, barg die Gefahr, alle Franzosen auf den Plan zu rufen, die mit den Antworten des Präsidenten nach den wütenden sozialen und politischen Protesten im Winter 2018-19 durch die Gelbwesten unzufrieden waren. Ein echtes politisches Dilemma also: die Renten reformieren mit dem Risiko, einen Teil der Franzosen in bescheidenen Verhältnissen dauerhaft zu verprellen, oder die Rentenreform aufgeben und den Status eines „reformistischen Präsidenten“ verlieren. 

Warum stößt dieses Projekt auf so viel Misstrauen und Ablehnung?

Das Misstrauen gegenüber dem Reformprojekt ist vor allem auf eine Reihe politischer und struktureller Fehler zurückzuführen. Zusammengefasst wurde die Reform mit der simplen Formel „Jeder Euro, der in die Rentenkasse eingezahlt wird, bringt die gleichen Anrechte für alle“. Ein universelles System sollte eingeführt und Sonderregelungen beseitigt werden. Hier war es der Regierung gelungen, der Bevölkerung die Vorteile eines Punktesystems plausibel zu machen, das auf dem Umlageverfahren basiert. Der Präsident und seine Regierung schickten mit Jean-Paul Delevoye einen Spezialisten für Verhandlungen mit den Gewerkschaften ins Rennen, in der Hoffnung, damit die Öffentlichkeit von den Verbesserungen dieses neuen Pakts zwischen Erwerbspersonen und Rentnern zu überzeugen.

Doch der Premierminister beschloss, diese Reform mit dem Ziel einer finanziellen Ausgeglichenheit des künftigen Rentensystems zu verbinden. Das gipfelte am 11. Dezember 2019 in der Ankündigung, das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre anheben zu wollen. Die Gewerkschaften reagierten mit Überraschung und Widerstand, die Erwerbstätigen mit Unzufriedenheit und Ablehnung. Die Entscheidung, diese beiden Punkte miteinander zu verbinden, war zweifellos ein gravierender Fehler. Es überrascht daher nicht, dass die Regierung am 12. Januar 2020 einknickte und die Pläne zum Renteneintrittsalter aussetzte. Doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen. So entstand der Eindruck, die Regierung versuche, sich gegen die wichtigsten Gewerkschaften zu stellen und damit den sozialen Dialog zu missachten.

Hinter dem sozialen Konflikt buhlen die Regierung und ein Teil der Gewerkschaften darum, wer für sich behaupten kann, das Gemeinwohl besser zu vertreten. Was steht in diesem politischen Kampf auf dem Spiel?  

Der Widerstand gegen die Sozialreformen von Emmanuel Macron ist mehr als die Ablehnung der Reformen, die das französische Modell in Frage stellen. Er beruht auf dem generellen Argwohn der Arbeitnehmenden und ganz allgemein der Franzosen gegenüber der Politik.

Die Krise der Politik äußerst sich bei uns im Verfall der repräsentativen Demokratie, genauer gesagt des Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten. Quasi als Gegenstück geht es auch um das Modell der Sozialdemokratie. Heute ist die soziale Demokratie durch das Konzept des sozialen Dialogs ersetzt worden. Damit sollen die sozialen Beziehungen zwischen Staat, Arbeitgebern und Arbeitnehmern besser gebündelt werden. Statt der ursprünglichen, auf Konflikt beziehungsweise der Beziehung zwischen Machtgruppen und zwischen Klassen beruhenden Sicht hat die Sozialdemokratie nun eine neue Form des Umgangs übernommen. Die Adaptation von Kompromissen, „Geben und Nehmen“ und Verhandlungen ging allerdings nicht ganz ohne Reibungsverluste ab. 

So entstand der Eindruck, die Regierung versuche, sich gegen die wichtigsten Gewerkschaften zu stellen und damit den sozialen Dialog zu missachten.

Bei diesem politischen Kampf geht es um wichtige Streitpunkte. Es geht zum einen darum, dass die Exekutive streng pragmatisch agiert und damit riskiert, die Gewerkschaften links liegen zu lassen, die die Franzosen für zu politisiert halten. Zum anderen steht zur Debatte, dass sich rein betriebswirtschaftliche Überlegungen auf Kosten der Utopien und der Radikalität früherer Tage durchsetzen. Dies würde die soziale Demokratie auf rein lokale Gegebenheiten eingrenzen, und sie würde jegliche weiterführende Ambitionen aufgeben.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Regierung beziehungsweise die reformistischen und die protestierenden Gewerkschaften, um einen Ausweg aus der Krise zu finden und gleichzeitig das Gesicht zu wahren?

Diese Situation wirft ohne Zweifel neue Fragen auf, und es gibt zahlreiche Kommentare, die teilweise aus parteipolitischen und ideologischen Erwägungen heraus geäußert werden. Tatsache ist, dass nicht so sehr der Wirtschaftsliberalismus von Macron in Frage gestellt wird, sondern vielmehr sein in den Augen vieler allzu dirigistischer Regierungsstil. Dies hat zu bemerkenswerten Entwicklungen in der öffentlichen Meinung und der Arbeitswelt geführt. Lange Zeit hielt sich unter den Franzosen das, was einige als die „Forderung nach einem Staat“ oder die „Forderung nach einem immer interventionistischeren Staat“ bezeichneten.

Heute scheint diese Forderung viel von ihrer Kraft verloren zu haben. Und das erklärt vielleicht die Kluft zwischen den Arbeitnehmern und Emmanuel Macron, dessen Politik zwar einen liberalen Ansatz hat, aber in der Ausführung doch sehr an de Gaulle erinnert. Für den Regierungschef scheint eines klar: Angesichts des Rückstands Frankreichs im europäischen Kontext muss es Sozialreformen geben. Daher auch seine Forderung: Um die Reformen effizient durchzuführen, muss staatliches Eingreifen über einem sozialen Dialog stehen, der in seiner Kompromisssuche per definitionem nicht Teil eines „Dringlichkeitsprogramms“ sein kann.

Der politische Nutzen dieser Reform erscheint gering angesichts des Risikos, das sie für die Popularität der Regierung in der öffentlichen Meinung darstellt. Hat man sich mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 verkalkuliert?  

Ich glaube, dass Emmanuel Macron aus diesem gesellschaftlichen Geschehen keinen kurzfristigen politischen Nutzen ziehen kann. Die öffentliche Meinung hat sich gedreht – die Rentenreform wurde als legitim empfunden, solange sie auf gesellschaftliche Gerechtigkeit abzielte. Dadurch, dass Macron die Idee eines ausgeglichenen Haushalts einbrachte, wurde er aber wieder einmal vom Image des Präsidenten eingeholt, der sich nicht um das Schicksal der einkommensschwachen Bürger schert. Man könnte argumentieren, dass es ein kluges politisches Kalkül sei, weiter Wählerstimmen am rechten Rand abzugraben. In der Tat steht Emmanuel Macron weiterhin in der Gunst dieser Wählergruppe, die sein Festhalten an wirtschaftlichen Werten schätzt und erwartet.

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 sollte man jedoch überlegen, ob die von Emmanuel Macron initiierte Konfrontation mit einer linken Wählerschaft nicht ein gewagtes Spiel ist: Wird durch den Wettbewerb mit der klassischen Rechten (Republikaner) und der extremen Rechten (Rassemblement National) um die gleiche Wählerschaft möglicherweise der Weg für eine Konsolidierung der Linken (von der Kommunistischen Partei über die Sozialistische Partei bis hin zu den Grünen) geebnet?

Aus dem Französischen von Claire Labigne und Sabine Dörfler