Interview von Claudia Detsch

Lateinamerika ist in Aufruhr. In vielen Ländern kommt es zu heftigen Protesten. Woher rührt dieser Unmut der Bevölkerung?

In den letzten Monaten wurden fast alle südamerikanischen Länder zum Schauplatz institutioneller Krisen, sozialer Proteste, von Staatsstreichen oder Regierungswechseln. Dabei haben wir es mit jeweils unterschiedlichen Ursachen und unterschiedlicher Intensität zu tun. In allen betroffenen südamerikanischen Ländern herrscht jedoch ein enormes Unbehagen innerhalb der Gesellschaft vor und ein Unvermögen des politischen Systems, diese Realität zu verstehen. Dazu kommt noch die Korruption. Das haben die aktuellen Geschehnisse in Kolumbien, Peru, Ecuador, Chile und Bolivien gemein. Nicht zu vergessen ist auch die venezolanische Krise. 

Was muss jetzt getan werden?

Zwei Themen müssen ganz nach oben auf die Agenda progressiver Kräfte in Lateinamerika. Einmal die Ungleichheit – wir sind die ungleichste Region der Erde. Und zum anderen die Demokratie. Dabei geht es nicht um formale Demokratie oder die Wahlsysteme. Es geht um Demokratie als Form des politischen Systems, als eine Form der Regierung, aber auch als ein Zustand der Gesellschaft. Ungleichheit und Demokratie sind wieder im Zentrum der progressiven lateinamerikanischen Agenda angekommen.

Seit die progressiven Kräfte dort größtenteils nicht mehr die Regierungen stellen, sind die regionalen Integrationsforen in eine tiefe Krise gerutscht. Ist die regionale Integration in Lateinamerika gescheitert?

Integrationsprozesse weisen immer Momente des Fortschritts auf und Momente der Verzögerung, Stagnation und Regression. Es bringt nichts, das zu dramatisieren. Aber wir sollten auf jeden Fall versuchen, die Ursachen für die mangelnde Dynamik zu identifizieren und Maßnahmen zur Überwindung dieser Stagnation zu ergreifen. Wie das geschehen soll? Indem man sich auf Themen konzentriert, die Menschen verbinden. Themen, die direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben, denn dazu dient Integration ja letztendlich. Sie soll die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern. Menschen sollen das Gefühl haben, dass Integration ihrem alltäglichen Leben hilft.

Lateinamerika ist wieder einmal Schauplatz geopolitischer Streitigkeiten zwischen den USA einerseits und China und Russland andererseits. Wohin orientiert sich die Region?

Das ist eine gute Frage. Lateinamerika muss zunächst einmal den Blick nach innen richten. Diese Situation, die wir heute in den unruhigen Regionen haben, bestätigt nur die Notwendigkeit der Lateinamerikaner, sich selbst wiederzufinden und sich selbst zu reflektieren. Die weltweiten Prozesse der Integration dienen unseren Regionen damit, dass sie eine Plattform für die Einbindung in der Welt bieten.

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die EU für die Region?

Integration funktioniert nicht wie ein Käfig, in dem man eingesperrt ist, sondern wie eine Plattform, von der aus wir uns in die Welt projizieren können. Deshalb spielt auch die Europäische Union eine wichtige Rolle für uns. Sie ist für uns ein wichtiger Gesprächspartner. Wir haben als Mercosur gerade ein strategisches Assoziierungsabkommen mit der EU vereinbart. Es hat einige Jahre gedauert, bis dieses Abkommen ausgehandelt und vereinbart wurde. Jetzt muss es in die Praxis umgesetzt werden. Dieser Herausforderung stellen wir uns.

Sind sie optimistisch, dass dieses Abkommen tatsächlich in Kraft treten wird? Immerhin mehren sich die kritischen Stimmen.

Das hoffe ich doch, obwohl es Hindernisse gibt. Es gab Probleme innerhalb des Mercosur. Aber trotz dieser Schwierigkeiten war es möglich, eine Einigung zu erzielen und ein Abkommen auszuhandeln. Auch in der EU gibt es Hindernisse und Befürchtungen und auch da sind wir zuversichtlich, dass diese überwunden werden können. An dieser Stelle hat Deutschland eine grundlegende Rolle gespielt.

Bei welchen Themen können Lateinamerika und Europa auf globaler Ebene als Partner gemeinsam agieren?

Ich denke in vielerlei Hinsicht, aber ich möchte zwei Punkte hervorheben. Zum einen die Aufwertung der Demokratie. Einer Demokratie der Bürger, die als ein festes oder ausgewogenes System von Rechten und Pflichten konzipiert ist. Das ist ein Punkt, an dem Lateinamerika und Europa noch handeln müssen. Dabei geht es auch um Gleichheit. Wir sind zwar nicht die ärmste Region der Welt, aber die ungleichste. Da gibt es noch viel zu tun. Es geht uns dabei nicht nur um die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch um die Gleichheit im alltäglichen Leben. Dazu gehört auch die Verteidigung der Menschenrechte. Menschenrechte sind ein wichtiger Mechanismus für das Zusammenleben, aber auch die Ethik der Demokratie. Daran müssen wir wirklich noch arbeiten. In der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, dem Handelsaustausch, dem kulturellen Dialog, beim Thema Ungleichheit und Gleichheit, Demokratie und Rechte haben wir Amerikaner und Europäer noch einiges zu tun.

Aus dem Spanischen von Kerstin Wirtz.