Die Fragen stellten Mira Groh und Alexander Isele.
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 und dem damit verbundenen dramatischen Abzug der NATO-Mission hat der Bundestag die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung des 20-jährigen Afghanistan-Engagements der deutschen Bundeswehr eingesetzt. Nun zieht diese Zwischenbilanz. Was ist die wichtigste Erkenntnis?
Wir sind mit dem strategischen Ziel gescheitert, langfristig ein demokratisches Staatsverständnis nach unserem Vorbild aufzubauen. Trotzdem gab es in den 20 Jahren auch Erfolge in Afghanistan. Von den Fortschritten bei Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur haben große Teile der Bevölkerung profitiert. Aber das zu verstetigen, so dass es auch nach dem Abzug des Militärs und der internationalen Partner wirkt, ist nicht gelungen.
In dem Zwischenbericht wird dem westlichen Wirken in Afghanistan ein grundsätzliches Defizit bescheinigt. Es heißt: „Landeskenntnis, historisch kulturelles Konfliktverständnis oder vertiefte Wahrnehmung oder Erkundung des Gastlandes seiner Gesellschaft und der Partner war nicht vorhanden“. Woran lag das?
Natürlich ist es wünschenswert, dass man sich gut vorbereitet auf einen Einsatz, dass man sich mit der Kultur und Geschichte eines Landes auseinandersetzt und sich vorab Fragen stellt: Wie sieht diese internationale Partnerschaft vor Ort dann eigentlich aus? Was will man gemeinsam umsetzen? Das hat nicht stattgefunden in Afghanistan. Aber: Der Ausgangspunkt war ja dramatisch. Nach den Anschlägen in New York am 11. September 2001 überstürzten sich die Ereignisse. Sehr schnell an der Seite der Amerikaner zu agieren, war wichtig und stand nicht in Frage. Aus diesem überstürzten Handeln aufgrund dieses Schocks ergaben sich dann viele Defizite und viele Probleme, weil man sich eben nicht entsprechend vorbereiten konnte.
In dem 20-jährigen Einsatz gab es aber genügend Punkte, an denen man hätte revidieren können.
Das ist das Entscheidende. Bei diesem Ausgangspunkt ist es nachvollziehbar, dass man im Kampf gegen den Terror mit einer unzureichenden Vorbereitung nach Afghanistan gegangen ist. Aber über 20 Jahre hat der Auftrag sich oft verändert: Der Kampf gegen den Terror wurde irgendwann ein Infrastrukturausbau, dann wurde es Staatsaufbau und so weiter. Genau an diesen Stellen hat eine selbstkritische Bestandsaufnahme, Fehleranalyse und auch Fehlerkultur gefehlt: Was können wir eigentlich? Was wollen wir? Was können wir auch aus eigener Kraft in Afghanistan? Was können wir vielleicht zusammen mit den anderen Partnern? Was ist uns gelungen, was ist uns nicht gelungen?
Laut Zwischenbericht ist zumindest phasenweise die Zusammenarbeit mit den internationalen Partnern nicht gelungen. Woran lag das?
Der entscheidende Punkt war die große Abhängigkeit von den USA, in jeder Phase. Die Amerikaner haben mit ganz anderer militärischer Macht und auch mit ganz anderem finanziellen Einsatz vor Ort agiert. 80 Nationen waren über die 20 Jahre in Afghanistan – davon war keine auf Augenhöhe mit den USA. Das war ein Problem, so konnte Deutschland nie in eine wirklich eigenständige Rolle kommen, die einen auch zu einer Fehleranalyse und kritischen Bestandsaufnahme zwingt.
Lässt sich aus dieser Abhängigkeit auch das Scheitern eines vernetzten Ansatzes erklären, ein weiterer Kritikpunkt des Zwischenberichts?
Das würde ich nicht sagen, da sind andere strukturelle Themen eher im Vordergrund. Als die Enquete-Kommission die Arbeit aufgenommen hat, bin ich davon ausgegangen, dass das Hauptaugenmerk auf dem Außen- und dem Verteidigungsministerium liegt. Aber es waren zumindest indirekt auch die Ministerien für Wirtschaft, Finanzen, Bildung und Entwicklungszusammenarbeit beteiligt. Alle haben mit einem guten Anspruch den eigenen politischen Schwerpunkt vertreten, hier in Berlin als auch in Afghanistan, zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit NGOs oder auch mit Militärs. Aber das Zusammenzuführen zu einem Lagebild hat eben nicht hinreichend stattgefunden, weder hier noch in Afghanistan.
Was muss sich ändern?
Das wird jetzt die spannende Frage sein für die zweite Phase unserer Arbeit, mit der wir nun gerade begonnen haben. Welche Lehren zieht man daraus und wie reagiert man darauf, möglicherweise auch institutionell? Wir haben in Deutschland ein sehr starkes Ressortprinzip. Ministerinnen und Minister agieren eigenverantwortlich in ihren Ressorts. Findet man trotzdem einen Weg – beispielsweise ein Gremium, einen Ausschuss im Parlament, da gibt es die unterschiedlichsten Ideen – der alle Beteiligten zwingt, einerseits enger zusammenzuarbeiten und andererseits dem Parlament gegenüber auch ein besseres Lagebild zu vermitteln? Denn das Parlament muss zum Schluss immer entscheiden, nicht nur über die Militäreinsätze, sondern auch über die Finanzen, mit denen alle Ressorts vor Ort arbeiten.
Stichwort Bundessicherheitsrat.
Das ist eine Variante, die auch vorgetragen wurde von Sachverständigen, die vor Ort waren und die wir angehört haben, und von Parteienvertretern. Aber es gibt kein einheitliches Stimmungsbild. Einen Bundessicherheitsrat gibt es ja, ein Vorschlag ist, diesen weiterzuentwickeln. Allerdings muss man aufpassen, unter einem Nationalen Sicherheitsrat nicht das zu verstehen, was man darunter aus den USA kennt. Das dortige System bietet einem Präsidenten ganz andere Möglichkeiten, mit so einem Gremium zu arbeiten, als es bei uns der Fall wäre.
Diese Woche findet in Doha auch eine von der UN organisierte Afghanistan-Konferenz statt, bei der diskutiert wird, wie Länder ihre Beziehungen zu den in Afghanistan herrschenden Taliban auf eine koordinierte und strukturierte Weise gestalten können. Die Bundesrepublik war 20 Jahre im Land aktiv – welche Verantwortung tragen Deutschland und seine internationalen Partner für Afghanistan heute?
Eine große Verantwortung, nach wie vor. Deutschland ist eben auch mit dem Auftrag in das Land gegangen, jenseits des Kampfes gegen den Terror auch strukturell etwas Positives für die Bevölkerung zu erreichen. Wir sind in der Pflicht, den Menschen in Afghanistan weiter zu helfen. Das ist eine Gratwanderung, denn wir wollen nicht mit diesem Taliban-Regime zusammenarbeiten, das die eigene Bevölkerung drangsaliert. Man muss Wege finden, um den Menschen vor Ort zu helfen, die ansonsten verhungern und erfrieren würden. Humanitäre Hilfe ist das Gebot der Stunde.
Ein großes Thema sind auch immer die circa 12 000 sogenannten Ortskräfte, die in der Gefahr sind, von den Taliban entdeckt zu werden. Wie sieht die Situation für diese Menschen gerade aus?
Es war nicht der Auftrag der Enquete-Kommission, sich mit dieser aktuellen Lage auseinanderzusetzen. Diese Menschen spielen im Bundestag aber natürlich eine große Rolle. Drei Viertel der betroffenen Menschen konnten ausreisen und wurden aufgenommen. Bei gut 10 000 Menschen gibt es weiter eine sehr unklare Situation. Auf welcher Grundlage möchten sie zu uns kommen? Wie kann man nachvollziehen, für wen sie wann gearbeitet haben? Viele haben gar keine Papiere oder sind vielleicht schon in ein benachbartes Land ausgereist. Es gibt auch Sicherheitsbedenken und Prüfungen: Wer kommt da eigentlich? Die Verfahren sind verständlich, aber es dauert zu lange und die Menschen müssen zu lange in Ungewissheit leben, worüber es Unmut im Bundestag gibt.
Vergangenes Jahr endete auch der zweite große Bundeswehreinsatz in Mali. Lassen sich Parallelen zwischen dem Abzug aus Afghanistan und dem der MINUMSA-Mission ziehen?
Afghanistan kann man nicht eins zu eins mit anderen Einsatzgebieten gleichsetzen. Die Gegebenheiten waren sehr speziell und auch die Dauer und der Umfang des Engagements sind einmalig. Trotzdem hat die Frage im Bundestag eine Rolle gespielt, was man aus Afghanistan für Mali lernen kann. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir da auch wieder eine Abhängigkeit gesehen haben. Diesmal von den Franzosen, die mit anderer militärischer Stärke präsent waren. Bei Mali wurde nun schneller die Konsequenz gezogen, nachdem erkannt wurde, dass ohne die Franzosen unser Engagement unter keinem guten Stern steht und weil man vor Ort nicht gewünscht ist von der Regierung.
Sie fordern mehr Engagement in globalen Krisen und Konflikten. Die Reputation des Westens ist im Globalen Süden derzeit ziemlich angeschlagen, neue Partner wie die russische Wagner-Gruppe gewinnen an Bedeutung. Wie kann Deutschland zukünftig eine bestenfalls eigenständige Rolle spielen?
Man muss aufpassen mit dieser Gleichsetzung: der Westen. Über Jahrzehnte wurde der Westen gleichgesetzt mit den USA und viele Länder wollten sich auch an den USA orientieren, an deren Gesellschaftsmodell, an deren wirtschaftlicher und militärischer Kraft. Das ist vorbei. Nicht nur im Globalen Süden, man schaue auf BRICS, stellen sich viele Länder die Frage, wer in ihrem Interesse ein guter Partner sein kann. Die Antwort darauf ist nicht mehr zwingend die USA oder der so genannte Westen, sondern sie kann auch Russland oder China sein – aber oft ist sie zum Glück auch Deutschland. Die Bundesrepublik hat gerade auch im Nahen Osten und in weiten Teilen Afrikas einen guten Namen, auch weil wir nicht dieselbe Kolonialgeschichte haben wie Briten und Franzosen. Und wir gehen nicht mit diesem selbstverständlichen Machtanspruch der Amerikaner in andere Länder. Das schafft Vertrauen und bedeutet, dass viele uns als sehr verlässlichen, glaubwürdigen und seriösen Partner betrachten. Jenseits der grundsätzlichen Neuorientierung, die nicht mehr selbstverständlich in Richtung Westen und den USA geht, kann und wird Deutschland in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.