Die Fragen stellte Alexander Isele.

Die Peking-kritische Democratic Progressive Party (DPP) hat zum dritten Mal in Folge die Präsidentschaftswahlen gewonnen, ihr Kandidat William Lai Ching-te wird der nächste Präsident. Ihre Mehrheit im Parlament konnte die Partei jedoch nicht verteidigen. Wie hat die Bevölkerung nach einem sehr emotional geführten Wahlkampf das Ergebnis aufgenommen?

Je nach eigener Präferenz: Im siegreichen Lager herrschen Erleichterung und Jubel, im unterlegenen eher Katzenjammer. Es sollte allerdings niemand überrascht sein, da das Ergebnis auf der Linie der letzten Umfragen liegt, die in Taiwan bis zehn Tage vor der Wahl veröffentlicht werden dürfen. Eine gewisse Anspannung herrscht natürlich, weil die Menschen eine Reaktion aus Peking erwarten, die aber vielleicht erst zur Amtseinführung des neuen Präsidenten im Mai Gestalt annehmen wird.

Während große Teile der älteren Bevölkerung in Taiwan noch eine enge Verbindung zu China verspüren, sehen sich gerade viele Jüngere als Taiwanerinnen und Taiwaner. Wie wird um die Identität gerungen?

Ich bin nicht sicher, ob die Identitätsfrage wirklich so stark mit dem Alter zu tun hat. Außer den ganz Alten sind schließlich inzwischen alle Taiwanerinnen und Taiwaner auf der Insel geboren. Bei dieser Wahl haben die jungen Wählerinnen und Wähler mehrheitlich für die dritte Kraft, die Taiwan People’s Party gestimmt, die das Thema Identität nicht sehr hochhält, sondern mit Antworten auf Sachfragen punkten will. Dort ist auch die Enttäuschung am größten, weil ihr Kandidat nur ein gutes Viertel der Stimmen auf sich vereinigen konnte. 

International dominiert das Verhältnis zu China in der Berichterstattung. Welche anderen Themen waren bei der Wahl entscheidend?

Die Mietpreise, vor allem die in der Hauptstadt Taipeh, Energiesicherheit, die sehr niedrige Geburtenrate und die medizinische Versorgung sind Dinge, welche die Bevölkerung umtreiben. Es ist aber in Taiwan so, dass vor allem in der Endphase des Wahlkampfs eine emotionale Mobilisierung der Wählerschaft über das Thema China versucht wird – was ein bisschen verwunderlich ist, weil es hier eigentlich einen breiten pragmatischen Konsens gibt, dem zufolge man weder die formale Unabhängigkeit noch die Vereinigung mit der Volksrepublik anstrebt. Die Parteien streiten aber mit Verve darüber, wie man beides am besten vermeidet.

In den vergangenen Monaten hat China den Druck auf Taiwan unter anderem durch unzählige militärische Manöver erhöht. Welche Rolle hat Pekings Verhalten bei der Wahlentscheidung der taiwanischen Bevölkerung gespielt?

Pekings Einschüchterungsversuche fruchten nicht, sie sind für das Regime vielleicht sogar kontraproduktiv. Schon vor vier Jahren war Xi Jinping letztlich der beste Wahlhelfer der jetzt aus dem Amt scheidenden Präsidentin Tsai Ing-wen. Die Beeinflussung durch chinesische Desinformationskampagnen und Fake News ist allerdings ein Problem, denn dadurch wird das Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen untergraben. Wahlentscheidend war das diesmal zwar nicht, aber es macht mir durchaus Sorgen.

In europäischen Debatten gilt Taiwans Halbleiterindustrie als eine Art Lebensversicherung im Großmächtekonflikt zwischen China und den USA. Wie bewertet Taipeh den sich zuspitzenden Technologiekonflikt?

Keine Frage, das Land will der weltweit führende Produzent bleiben und sieht sich zu Recht gut aufgestellt. Ob darin wirklich eine Lebensversicherung für die Insel liegt – Stichwort „Silicon Shield“ –, ist aber weit weniger klar. Sollte sich der Konflikt zwischen China und den USA weiter zuspitzen, könnte es für beide Seiten wichtig werden, der jeweils anderen den Zugang zu Taiwans Halbleitern zu verwehren – das würde die Gefährdung der Insel vielleicht sogar noch steigern.

Welche Erwartungen hat die taiwanesische Politik und Bevölkerung an Europa und Deutschland?

Deutschland gilt in Taiwan allgemein als zu chinafreundlich beziehungsweise als zu abhängig vom chinesischen Markt. Wenn es darum geht, China von einer Invasion abzuhalten, könnten Deutschland und die EU aber eine wichtige Rolle spielen – nicht bei der militärischen Komponente der Abschreckung, wohl aber bei der wirtschaftlichen und politischen. Dazu wären klare Ansagen in Richtung Peking nötig, und die wünscht man sich in Taiwan. Aus dem EU-Parlament kommen diese gelegentlich, aus der deutschen Politik eher selten und aus dem Kanzleramt überhaupt nie.