Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Die Militärkampagne, mit der Israel auf den brutalen Terrorangriff der Hamas reagiert, dauert mittlerweile über vier Monate an. Wie beurteilen Sie die Lage im Gazastreifen?
Offen gesagt, die Situation ist barbarisch. Egal, welches militärische Ziel ein Land erreichen will: 30 000 getötete Menschen – davon 70 Prozent Frauen und Kinder – sind kein Kollateralschaden. Das erklärte Ziel der israelischen Operation war: Die Hamas soll ausgeschaltet, ihre Anführer gefangen genommen und ihr Netzwerk zerstört werden. Von diesen Zielen ist kein einziges erreicht worden. Erstens: Zu behaupten, 30 000 Tote seien ein vertretbarer Kollateralschaden, ist inhuman. Wir leben im 21. Jahrhundert. Selbst die Freunde Israels sollten nicht akzeptieren, dass es so weit geht. Zweitens: Haben die Israelis, wenn man es rein zynisch-militärisch betrachtet und wenn man von den Schäden absieht, ihre Ziele erreicht? Definitiv nicht. Natürlich haben sie der Hamas den einen oder anderen Verlust beigebracht. Doch das erklärte militärische Ziel war die Ausschaltung der Hamas und die Gefangennahme ihrer gesamten Führung. Dieses Ziel zu erreichen, ist jedoch unmöglich. Die Hamas ist eine Idee, ein Denkmodell. Ob Yahya Sinwar oder andere Hamas-Mitglieder vor Ort physisch präsent sind, ist nicht der Punkt. Die Ideologie der Hamas speist sich aus der Wut, die sich in Jahrzehnten Besatzung aufgestaut hat. Selbst wenn es die Hamas nicht mehr gäbe, wäre die Wut trotzdem da.
Die israelische Armee ist gerade dabei, eine Bodenoffensive auf Rafah vorzubereiten. Dort hält sich die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens auf, weil sie dort Zuflucht gesucht hat. Was bedeutet das für Ägypten?
Rafah massiv zu bombardieren, wäre inhuman und verantwortungslos. Die Zivilbevölkerung kann nirgendwohin. Wenn die Offensive – mit oder ohne Bodentruppen – intensiviert wird, würde es ungeheuer viele zivile Opfer geben. Für Ägypten wäre das aus mehreren Gründen ein großes Problem. Erstens ist es sehr schwierig, so viele Menschen medizinisch und humanitär zu versorgen. Zweitens zielt die Politik der Israelis bewusst darauf ab, die Palästinenser aus ihren Gebieten zu vertreiben, weil ihnen klar ist, dass diese ihnen demografisch mittel- und langfristig überlegen sind. Drittens würde das Chaos ein Sicherheitsproblem heraufbeschwören. Es gibt also drei Probleme: die humanitäre Frage, die politische Problematik und das Sicherheitsproblem.
Eine israelische Offensive könnte dazu führen, dass Hunderttausende Palästinenser über die Grenze nach Ägypten fliehen. Ist Ihr Land für die Aufnahme einer enormen Anzahl palästinensischer Flüchtlinge gewappnet?
Das ist kompliziert. Politisch sind wir dafür nicht gerüstet. Für die ägyptische Regierung ist es sehr schwer, der eigenen Bevölkerung zu erklären, dass Israel die Palästinenser nötigt, über die Grenze nach Ägypten zu fliehen. Ich gehe allerdings davon aus, dass es Notfallpläne gibt. In den Medien wurden Satellitenbilder gezeigt, auf denen Baustellen zu sehen sind. Die Bebauung in den betreffenden Gebieten war ursprünglich nicht für Flüchtlinge gedacht. Dort waren ungenehmigte Wohngebäude errichtet worden, die auf Beschluss der Regierung wieder abgerissen wurden. Die Bewohner mussten ausziehen. Anschließend wurde das Gebiet ein zweites Mal bebaut – diesmal mit genehmigten Gebäuden. Den vorherigen Bewohnern wurde angeboten, zurückzukommen. Aber sie kamen nicht zurück, weil die Wohnungen zu teuer waren. Dass in diesem Gebiet Arbeiten stattfinden, ist klar, aber zu welchem Zweck – das ist schwer zu sagen.
Ist für Sie vorstellbar, dass Kairo unter bestimmten Umständen den Friedensvertrag mit Israel aussetzt? Welche Folgen hätte das?
Eine Aussetzung des Friedensvertrags ist rechtmäßig. Wenn sie die Palästinenser nötigen, über die Grenze zu fliehen, würden die Israelis unmittelbar gegen das Friedensabkommen verstoßen. Die Jordanier waren übrigens die Ersten, die schon wenige Tage nach Beginn der Gaza-Offensive gesagt haben: Wenn es zur gewaltsamen Vertreibung von Palästinensern kommt und sie über die Grenze fliehen müssen, werden wir unser Friedensabkommen mit Israel aufkündigen.
Rafah massiv zu bombardieren, wäre inhuman und verantwortungslos.
Schon mit dem, was die Israelis derzeit am Philadelphi-Korridor machen, verstoßen sie nach unserem Verständnis gegen den Friedensvertrag. Wir Ägypter und die Israelis haben einvernehmlich vereinbart, dass sie sich von diesem Gebiet fernzuhalten haben, damit sie sich nicht zu sehr der Grenze nähern. Im Zuge der jetzigen Operationen sind sie aber überall in dem betreffenden Gebiet präsent. Das ist ein Problem und bereitet uns Sorge. Wir sprechen dieses Problem ihnen gegenüber an und werden das auch weiterhin tun. Es passiert aber auf ihrer Seite. Auf Dinge, die dort passieren, wird anders reagiert als auf Dinge, die in unser Gebiet hineinwirken. Wir werden nicht von uns aus dem Vertrag zuwiderhandeln. Wenn unser Territorium bedroht wird, werden wir aber auch nicht tatenlos zusehen.
Als Vermittler und Nachbarland spielt Ägypten eine wichtige Rolle bei den Gesprächen zwischen Israel und der Hamas über einen möglichen Waffenstillstand und eine langfristige Friedenslösung.
Entstanden sind diese Gespräche aus den Diskussionen über den Austausch von Geiseln gegen Häftlinge. Das war das Erste, was verabredet wurde. Zuerst Zivilisten, dann Militärangehörige. Wenn die Hamas einige der als Geiseln genommenen Soldaten herausgibt, wird sie als Gegenleistung fordern, dass einige der militanten Aktivisten freigelassen werden, die in israelischen Gefängnissen einsitzen. Und an diesem Punkt, an dem wir mittlerweile angelangt sind, ist das keine rein humanitäre Frage mehr, sondern eine politische. Teil des Vorschlags der Hamas war unter anderem eine längere Waffenruhe und indirekte Verhandlungen zwischen beiden Seiten. Das ist der Grund, warum Katar bei der Kooperation mit den Israelis von Anfang an eine aktive Rolle übernahm. Katar unterhält intensive Beziehungen zur Hamas. Ägypten hatte eine gewichtige, aber anders geartete Rolle, weil wir ganz nah am Geschehen sind, an der Grenze. Deshalb müssten wir bei jeder Freilassung mit eingebunden werden. Unter diesem Aspekt hat unsere Rolle enorm an Bedeutung gewonnen.
Welche Unterstützung würde Ägypten sich von internationalen Partnern wie Deutschland und anderen wünschen?
Der Konflikt muss mit intensivem Engagement der Parteien in der Region gelöst werden – durch Araber und Israelis. Doch wir können den Konflikt nicht allein lösen. Wir brauchen Hilfe. Warum? Die Israelis betrachten die Nicht-Israelis in der Region als Gegner. Deutschland, die USA und einige andere Staaten sehen sie hingegen als Freunde. Kritik aus deren Munde hat mehr Gewicht. Der zweite Aspekt hat mit dem Völkerrecht zu tun. Wer den Anspruch erhebt, dass er eine auf rechtsstaatlichen Grundsätzen aufbauende Weltordnung vertritt, muss sich auch bei seinen eigenen Entscheidungen konsequent an diese Grundsätze halten. Man kann sich nicht in einem Fall auf das Rechtsstaatsprinzip berufen und in anderen Fällen wie dem Krieg in Gaza dieses Prinzip ignorieren.
Deutschland ist in der luxuriösen Situation, ein mächtigerer Staat und Teil einer weltumspannenden Allianz zu sein – der NATO. Dies ist mit einer Verantwortung verbunden. Ägypten dagegen ist ein mittelgroßer Staat, und die Sicherheit solcher Staaten steht und fällt mit dem Völkerrecht. Wir sind darauf angewiesen, dass Deutschland und die fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sich konsequent verhalten. Die Aneignung von Gebieten, Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf Krankenhäuser sind Verstöße gegen das Völkerrecht. Dazu ist Israel nicht berechtigt. Das müssen die Israelis von Ihnen gesagt bekommen.
Welche Meinung haben Sie zum Wiederaufbau in Gaza?
Wird die arabische Welt den Wiederaufbau von Gaza übernehmen? Natürlich wird die arabische Welt ihren Beitrag leisten, denn wir sind eine Familie. Aber die Last darf nicht nur uns aufgebürdet werden. Wir haben Gaza nicht zerstört. Außerdem brauchen wir eine Vorstellung von dem Endergebnis. Sollen wir Gaza wieder aufbauen, und dann bombardieren die Israelis es erneut? Wird man von den Ägyptern verlangen, dass sie nach Gaza gehen und bei der Ausbildung der Kommunalbehörden mithelfen, für mehr Sicherheit sorgen, und anschließend wird wieder gekämpft? Es muss schon eine gewisse Logik dahinter sein.
Ist für Sie ein Ende des Kreislaufs der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern möglich?
Reden wir nicht drum herum: In Israel ist eine rassistische Regierung an der Macht. Sie spricht zunehmend von Vertreibung. Es wird vergessen, dass zwischen Ägypten und Israel seit fast 50 Jahren Frieden herrscht. Seit den 1970er Jahren gab es keinen ausgewachsenen Krieg zwischen Arabern und Israelis, sondern lediglich Gefechte im Libanon und in Gaza. Trotzdem hat Israel sich politisch von der Mitte an den extremen rechten Rand bewegt. Israel hatte mehr Frieden und mehr Sicherheit und steht wirtschaftlich viel besser da. Warum hat das Land sich dennoch nach rechts bewegt? Sicherheit und Wohlstand haben bewirkt, dass Israels Hass auf die anderen in der Region gewachsen ist.
Extremismus erzeugt immer neue Extreme – auch in unseren eigenen Gesellschaften.
Auf der anderen Seite gibt es – erst recht nach dem Blutbad in Gaza – in der arabischen Welt Leute, die sagen: Hört auf, von Frieden zu reden; Israel will keinen Frieden, sie werden nur auf Gewalt reagieren. Und die Staaten des Westens – oder die Russen – haben nicht die nötigen Kapazitäten oder die Entschlossenheit, um zu intervenieren. Die Hamas war vor dem 7. Oktober unpopulärer als heute. Ihre Popularität ist nicht deswegen gewachsen, weil die Menschen von ihrer Ideologie überzeugt sind, sondern weil sie frustriert sind und keine Hoffnung mehr aufbringen können. Für sie lautet die Alternative „Frieden oder Vergeltung“.
Wir können uns für einen Weg entscheiden, dessen Ziel sehr schwer zu erreichen ist: Frieden. Oder wir wählen einen ganz einfachen Weg, der aber mit sehr hohen Kosten verbunden ist. Übrigens: Was den Kreislauf der Gewalt angeht – den gibt es auf beiden Seiten. Vergessen wir nicht, wer Israels früheren Premierminister Jitzchak Rabin umgebracht hat: Ein Israeli. Und wer tötete den ägyptischen Präsidenten Sadat? Auch ein Israeli? Nein, ein Ägypter. Extremismus erzeugt immer neue Extreme – auch in unseren eigenen Gesellschaften. Das ist das, was mich beunruhigt.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld