Mit der Verkündung des Notstands hat Donald Trump den Vereinigten Staaten jetzt eine ausgewachsene Verfassungskrise beschert. Wo steht die Fieberkurve der amerikanischen Demokratie?
Die Situation, die ich extreme Polarisierung nennen würde, ist ja zunächst einmal nicht grundsätzlich neu. Auch schon vor der Trump-Wahl gab es Tendenzen in den politischen Lagern, die Institutionen des Landes, aber auch die politische Stimmung insgesamt so zuzuspitzen, dass man möglichst hohe Polarisierungs- bzw. Mobilisierungseffekte bei den eigenen Wählerinnen und Wählern hat. Und ebenfalls altbekannt ist, dass viele Amerikaner die aktuelle Entwicklung als einen weiteren Beleg dafür nehmen‚ dass Washington kaputt sei.
Neu ist, dass Mr. Trump als dritter Spieler auftritt und sagt: Ich stehe außerhalb dieser Institutionen und kritisiere die Institutionen der liberalen Demokratie an sich. Ganz am Anfang seiner Regierungszeit hat er beim ersten Gespräch mit beiden Häusern, die mehrheitlich republikanisch waren, diesen - wie ich finde, bezeichnenden - Satz gesagt: Ich verhandle im Namen des Volkes mit dem Kongress über amerikanisches Steuergeld. Das zeigt, welche Denke dahintersteckt. Also: Verfassungskrise? Ja. Aber die Verfassungskrise bestand eigentlich schon, seit es den Versuch des Präsidenten gibt, bei jeder ihm opportun erscheinenden Gelegenheit die politischen Karten zwischen den Institutionen neu zu verteilen, um sein Narrativ aufrechtzuerhalten: Ich gegen die Eliten. Der neueste Anlass ist jetzt eben die Mauer zu Mexiko.
Können wir in diesem langanhaltenden Trend noch auf Selbstheilungskräfte der Demokratie setzen?
Ich glaube, dass es so etwas wie Selbstheilungskräfte in der Demokratie weder in den USA noch in anderen Demokratien gibt. Nichts geschieht von selbst. Der Zustand der Demokratie ist das Ergebnis von vielen kleinen, täglichen, individuellen Entscheidungen von Personen und Institutionen. Statt Hoffnung auf Selbstheilung brauchen wir Verantwortungsbewusstsein. Da sitzen wir alle im selben Boot. Natürlich zuerst die Amerikaner, zuerst deren Institutionen, der Kongress, die Abgeordneten, die Staaten, die Wirtschaft und am Ende auch die Wählerinnen und Wähler, aber auch wir als internationale Partner. Das heißt, wir müssen den Anspruch haben, die Vereinigten Staaten immer wieder einzuladen, sie immer wieder in ein kooperatives, multilaterales System zu drängen. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und sagen: Das werden die Amerikaner schon von alleine machen.
Nach einer aktuellen Umfrage der Atlantik-Brücke sehen 85 Prozent der Deutschen das Verhältnis zu den USA negativ. Lediglich 13 Prozent wünschen sich eine stärkere Annäherung. Parallel dazu setzt Trump auf America First. Bricht da jetzt einfach auseinander, was - mit Willy Brandt gesprochen - auseinander gehört?
Die Zahlen kann ich aus meinem persönlichen Umfeld bestätigen. Wir erleben eine Erosion des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Auch die aber geht weit zurück: Denken wir an den Irak-Krieg, das Syrien-Desaster, die ständige Polarisierung im Bündnis, das sehr, sehr kritisch gesehene Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Insbesondere im konservativen republikanischen Lager in den USA höre ich immer wieder, man solle Trump nach seinen Taten, nicht nach seinen Worten beurteilen. Das aber ist irreführend. Worte machen extrem viel aus. Es macht einen Unterschied, ob ein John F. Kennedy sagt: „Ich bin ein Berliner“, oder ein Trump: „Ihr seid mir egal, America first!“ Es macht einen Unterschied, ob Ronald Reagan an der Berliner Mauer sagt: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall“, oder ob sich jemand zu Hause verkriecht und sagt: „Uns interessiert der Rest der Welt nicht mehr.“
Aber es geht nicht nur um Rhetorik. Die Liste der Interessenskonflikte könnte man ja noch verlängern – Stichwort: Nord Stream und Afghanistan. Wo besteht denn überhaupt noch Interessensgleichheit?
Die konkreten Interessenkonflikte sind nicht das große Problem unserer Zeit. Unterschiedliche Interessen haben wir auch in der Vergangenheit gehabt. Mir kommt es auf die gemeinsamen Werte an. Ich mache das beispielhaft am WTO-Regime und eventuell auch an anderen Freihandelsabkommen fest. Mir kommt es nicht so sehr darauf an, ob wir nun akzeptieren, dass die Amerikaner ihre Unternehmen zu Hause anders besteuern wollen. Das kann ich alles verstehen. Auch wir machen uns Gedanken darüber, wie wir unsere Wirtschaft vor Dumping-Prozessen von außen schützen. Wichtig ist - und jetzt kommen wir zur großen Frage: Haben wir ein Reglement, eine Institution, haben wir Spielregeln, die wir einhalten, um uns zu einigen? Haben wir eine Kultur, um uns zu einigen? Der Unterschied besteht nicht darin, dass wir Interessenunterschiede haben. Der Unterschied besteht darin, dass dieser Verhandlungsprozess, dieser Einigungsprozess von der jetzigen amerikanischen Regierung an sich in Frage gestellt wird.
Zugleich ist die Krise der transatlantischen Beziehungen so alt wie die transatlantischen Beziehungen selbst. Welche Rolle spielen Ressentiments? Schon Heinrich Heine verachtete Amerika als „das Land, wo der Pöbel seine rohe Herrschaft ausübt“. Knüpft europäische Kritik manchmal auch an diese alten Ressentiments an?
Ja, das ist sicher auch der Fall. Aber das gilt auch für andere Gesellschaften, nicht nur für die USA. Ich halte dem Heine-Zitat ein Zitat von Franz Müntefering entgegen. Der hat einmal gesagt: „Ich habe von den US-Soldaten nach dem Krieg Schokolade geschenkt bekommen. Ich bin nicht objektiv, sondern ein Freund Amerikas.“ Das ist auch Teil der Geschichte. Wenn diese Generation der Befreiten und der Befreier jetzt die politische Bühne verlässt, dann muss man überlegen: Welche Geschichte wollen wir jetzt erzählen? Da tun wir uns alle schwer.
Wichtig ist, jetzt eben auch andere große Player in den Blick zu nehmen, die unser Wertegerüst mittragen. Wir fragen nicht nach Religionszugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, ob man im Norden oder Süden geboren ist, ob die Eltern eine besondere soziale Stellung haben, nein, wir achten das Individuum und die Balance of Power, unabhängige Rechtsprechung, eine säkulare Verfassung. All das ist der Westen. Und das sind auch die Vereinigten Staaten. Ich freue mich aber insbesondere, dass diese Wertegemeinschaft des Westens nicht mehr unbedingt geografisch, sondern tatsächlich rein wertemäßig vermessen wird. Da rückt dann etwa eine Gesellschaft wie Südkorea in den Fokus, die ja in unserem klassischen transatlantischen Wertediskurs bislang überhaupt nicht vorkommt. Das gleiche gilt für einzelne afrikanische Staaten.
Und doch stellt sich die Frage, wie man mit diesem Präsidenten und seiner Rhetorik konkret umgeht. Ben Rhodes, einer der engsten Obama-Berater, hat jetzt ein Buch zu seiner Zeit im Weißen Haus vorgelegt. Sein Tipp lautet: Man solle einfach nicht über alles reden, was Trump so von sich gibt.
Interessanter Vorschlag. Nutzt es etwas, über alle diese Stöckchen, die Trump hinhält, zu springen? Das ist zum Beispiel die Debatte im demokratischen Lager. Sollen wir das Impeachment-Verfahren starten oder nicht? Nützt diese Polarisierung bei der Mobilisierung der eigenen Wählerinnen und Wähler zur Präsidentschaftswahl oder nützt sie den anderen? Das ist die Binnenlogik dieser Frage für die Vereinigten Staaten. Im internationalen Kontext kann das ähnlich sein, muss es aber nicht. Ich glaube, unsere Leitfrage muss lauten: Was ist die Wirkung in unserem eigenen Land? Es sitzen Abgeordnete im Deutschen Bundestag, die offen den Dexit fordern, also den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union. Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.
Und Europa: Auch hier sollten wir vor der eigenen Haustür kehren. Die Werte, die wir von den USA einfordern, müssen wir erst einmal bei uns selbst durchsetzen und versuchen, eine europäische Position der Stärke zu erreichen. Das gilt übrigens nicht nur für die Außen- und Sicherheitspolitik. Das gilt ausdrücklich auch für die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Europa. Das gilt für einen politischen Konsens der Werte – was bei dem einen oder anderen EU-Staat derzeit bekanntlich schwierig ist, um es mal vorsichtig zu formulieren. Unsere größte Hausaufgabe besteht darin, die Integration der Europäischen Union weiterzutreiben und Europa in den Vordergrund unserer Politik zu stellen. Wir sollten - das sage ich meiner Partei, den Sozialdemokraten - an der Spitze der Bewegung stehen und ein eigenes Bild entwerfen und uns nicht abhängig davon machen, wie das gerade jetzt in Peking, in Moskau oder in Washington bewertet wird.
Also Europe first?
Nein, sondern “European values first”.
Die Fragen stellte Michael Bröning.