Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Der Tag des Massakers vom 7. Oktober jährt sich. Seitdem führt Israel im Gazastreifen Krieg gegen die Hamas. Sie und ihre Familie mussten aus Gaza fliehen. Wie ist die Lage vor Ort?

Ich würde sagen, der Krieg richtet sich nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen den gesamten Gazastreifen. Die Situation dort verschlechtert sich tagtäglich. Meine engen Familienangehörigen und ich konnten aus Gaza fliehen, allerdings habe ich Geschwister, Neffen und weitere Verwandte, die immer noch da sind. Auch die Familie meiner Frau ist noch dort. Die Situation ist sehr dramatisch. Es fehlt an Hygienemitteln und an Zelten. Und nun kommt der Winter. Im Vergleich zum letzten Jahr gibt es kaum noch Häuser, die nicht zerstört sind. Der Bedarf an Zelten hat sich daher deutlich vergrößert. Über 70 Prozent der Menschen sind darauf angewiesen.

Das Schlimmste ist jedoch die Ungewissheit. Die Menschen wissen nicht, was am nächsten Tag passieren wird. Dass sich die Aufmerksamkeit und die Berichterstattung von Gaza derzeit Richtung Libanon verschiebt, macht die Lage nicht einfacher. Es werden tagtäglich weitere Luftangriffe gegen Gaza verübt. Darüber wird jedoch nur noch nebenbei berichtet. Es ist eine Katastrophe, dass keine richtigen Waffenstillstandsgespräche mehr stattfinden. Vor ein paar Monaten gab es noch ernsthafte Bemühungen – von den USA, der EU, auch von Katar und Ägypten. Momentan liegt alles still. Die Ungewissheit, der die Menschen in Gaza ausgesetzt sind, ist kaum zu ertragen.

Die Verhandlungen über eine Waffenruhe waren trotz zahlreicher Versuche bislang nicht von Erfolg gekrönt. Haben die Menschen in Gaza noch Hoffnung?

Die Hoffnung darf man nicht verlieren. Die Leute haben jedoch momentan den Eindruck, dass es der israelischen Armee eher um Rache geht – gegenüber der Hamas, aber auch gegenüber der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens. Die Angst, dass Israel jetzt den Gazastreifen und Teile des Westjordanlandes annektieren könnte, wächst tagtäglich. Die Menschen befürchten, dass sie früher oder später komplett nach Ägypten vertrieben werden. Vor einigen Monaten hat man noch daran geglaubt, dass der Krieg irgendwann enden wird und sie mit dem Wiederaufbau beginnen können. Nun herrscht jedoch eine spürbare Angst, dass sich das politische Klima dreht und Israel mehr Ansprüche geltend macht, als ihm nach internationalem Recht zusteht.

Der Gedanke an Wiederaufbau ist weit weg.

Der Gedanke an Wiederaufbau ist weit weg. Die Menschen in Gaza sind momentan schlicht damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihre höchste Priorität ist, weiterhin in ihrer Heimat leben zu können. Dafür braucht es zunächst einen Waffenstillstand. Erst dann wird man an den Wiederaufbau denken.

Wie wird die Hamas in der Bevölkerung gesehen?

Die Hamas ist in Gaza bei vielen verhasst. Die Mehrheit der Leute will sie, sobald der Krieg zu Ende ist, nie wieder an der Macht sehen. Man muss das differenziert betrachten: Die Hamas ist zwar verantwortlich für dieses Desaster, denn sie hat den Krieg ausgelöst. Der Feind in den Augen der Palästinenser ist dennoch Israel. Aufgrund der massiven Luftschläge Israels gegenüber dem Gazastreifen sowie der täglichen Militäraktionen in den palästinensischen Städten im Westjordanland wird die Hamas weiterhin unterstützt. In den Augen vieler setzt sie sich gegen Israel wenigstens zur Wehr – im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde, die tatenlos zusieht.

Sieht die Bevölkerung irgendeinen Ausweg aus dem Krieg?

Die Menschen warten auf eine Lösung von außen. Sie selbst können derzeit nicht viel bewirken. Es gab zahlreiche Versuche, Demos gegen die Hamas in Gaza zu organisieren. Dies hat jedoch nicht funktioniert und aufgrund der jetzigen Kriegslage ist es nicht mehr möglich. Die Hoffnungen, Israel zu stoppen, liegen nun auf Ägypten und der internationalen Gemeinschaft.

Welche Länder stehen besonders im Fokus und wie wird Deutschlands Rolle gesehen?

Die Amerikaner werden als Alliierte Israels betrachtet. Ägypten ist zwar bemüht, sorgt sich aber primär um seine eigenen Interessen. Lediglich Katar versucht, die Rolle als Mediator zu spielen. Deutschlands Image in Palästina, sei es im Westjordanland oder im Gazastreifen, hat sich sehr verschlechtert. In den Medien gab es viele Berichte über deutsche Waffenlieferungen, auch wenn diese in den letzten Monaten gestoppt wurden. Man sieht Deutschland als Komplize der Israelis – nicht nur aufgrund der politischen Position gegenüber Israel, sondern insbesondere wegen der militärischen Unterstützung in den ersten Monaten.

Deutschland hat kein gutes Image mehr in der arabischen Welt.

Deutschland hat kein gutes Image mehr in der arabischen Welt, speziell in den arabischen Gesellschaften und den zivilgesellschaftlichen Organisationen, zum Beispiel in den Gewerkschaften. Dort macht man Deutschland mitverantwortlich für das Desaster in Gaza. Nicht jeder versteht die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel.

Israel interveniert auch mit massiven Angriffen im Libanon. Die Hisbollah wurde schwer getroffen. Wie schaut man in Gaza auf die Entwicklungen im Libanon?

Viele in Gaza sehen die Hisbollah als einzige Macht, die sich solidarisch gezeigt hat – und zwar auch mit Taten –, während die arabischen Länder nur zugesehen und nichts getan haben. Der Konflikt mit der Hisbollah hat den Druck auf Gaza wenigstens etwas gemildert. Die israelische Armee musste ihre Kapazitäten so auf zwei Fronten verteilen. Den Israelis ist es gelungen, die Führungsriege der Hisbollah in wenigen Wochen zu eliminieren. Das haben wenige kommen sehen. Der Krieg in Gaza läuft immerhin beinahe ein Jahr und man kann immer noch nicht von einem endgültigen Sieg Israels sprechen. Im Libanon hat es keine zwei Wochen gedauert, bis die wichtigsten Hisbollah-Strukturen zerschlagen waren. Über diesen Vergleich wird in Gaza viel gesprochen. Man fragt sich allerdings auch, ob Israel nun Halt macht, wenn es den Fluss Litani erreicht, der den Süden des Landes vom restlichen Libanon trennt. Greift das israelische Militär womöglich als Nächstes in Syrien an? Israel könnte jetzt die Gunst der Stunde nutzen, um die Karte des Mittleren Ostens ein für alle Mal zu verändern und neue Gebiete zu besetzen. Netanjahu versucht die ganze Zeit, der Weltöffentlichkeit zu verkaufen, dass es um die Sicherheit seines Landes gehe. Doch das Vorgehen der Israelis kann kaum als Selbstverteidigung betrachtet werden.