Das Interview führte die IPG-Redaktion.

Die Erfolge der ukrainischen Armee in der Region Charkiw werden in manchen Medien als Wendepunkt beschrieben. Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein?

Ich will daran erinnern, dass zu Beginn des Krieges nahezu alle Expertinnen und Experten davon ausgingen, dass Russland binnen weniger Tage und Wochen das Land überrennen, eine Marionettenregierung einsetzen und diesen Krieg gewinnen würde. Nun erleben wir eine historische Situation: Die ukrainische Armee, getragen von der Unterstützung ihrer Bevölkerung, wehrt sich nicht nur erfolgreich und tapfer gegen die russische Aggression, sondern befreit inzwischen von Russland besetzte Gebiete. Ob es sich dabei bereits um einen Wendepunkt handelt, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Aber es ist ein ganz entscheidender Schritt hin zu dem Ziel des Überlebens der Ukraine als ein freies, demokratisches Land unter Wahrung seiner territorialen Integrität. Und dazu hat sicherlich auch die umfassende militärische Unterstützung des Westens, auch aus Deutschland, beigetragen. Das sind ermutigende Nachrichten, sofern man sich in Zeiten des Krieges über so eine Situation überhaupt zu freuen vermag.

Die ukrainische Regierung schließt derzeit Verhandlungen aus und nennt als Ziel die vollständige Befreiung aller ukrainischen Gebiete. Wie beurteilen Sie diese Rhetorik?

Erst einmal schließt ja Russland ernsthafte Verhandlungen aus und stellt Bedingungen, die für die Ukraine nicht akzeptabel sind, nämlich ein Diktatfrieden, der auf die Kapitulation der Ukraine mit einem weitgehenden Abtreten von Gebieten hinausläuft. Ich erinnere an die russische Forderung der „Entnazifizierung“ der Ukraine. Wie zynisch und erbärmlich! Wie soll es auf einer solchen Grundlage ernsthaft zu Friedensverhandlungen kommen? Russland hat sein zentrales Kriegsziel trotz der verheerenden Verluste und trotz der faktisch gescheiterten Strategie nicht geändert: Die Ukraine soll von der Landkarte verschwinden. Putin spricht diesem Land und dieser Nation jegliches Existenzrecht ab. Insofern ist die Frage etwas merkwürdig, weil die Aggression selbstverständlich von Russland und von Putin ausgeht – die Ukraine kämpft um ihr Überleben und um ihre Freiheit.

Nicht zuletzt nach den Erfolgen der Ukraine intensiviert Russland die Angriffe auf die zivile Infrastruktur. Das größte Atomkraftwerk Europas Saporischschja ist mehrfach vom Netz genommen worden. Nun sollen auch Staudämme gezielt beschossen worden sein. Wie muss der Westen darauf reagieren?

Russland hat von Beginn an brutalstmöglich zugeschlagen. In der Ukraine finden nahezu täglich massive Kriegsverbrechen statt: Mord, Folter, Vergewaltigungen und Unterdrückung. Insofern ist auch die Befreiung von russisch besetzten Gebieten in der Ukraine ein großer Sieg für die Menschlichkeit, weil die Menschen dort wieder in Freiheit und in Würde leben können. Umso wichtiger ist es, dass wir weiterhin mit Geschlossenheit und Entschlossenheit die Ukraine bestmöglich politisch, finanziell, humanitär, aber vor allem auch militärisch unterstützen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer müssen wissen und spüren: Wir stehen an ihrer Seite – und das ist nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern das wird tagtäglich durch konkretes Handeln untermalt.

Der Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja gehört zur perversen psychologischen Kriegsführung Putins gegen den Westen. Er spielt mit Ängsten vor einem atomaren Super-GAU wie in Tschernobyl, weil er genau weiß, dass damit die Sorgen vor einer Eskalation des Krieges, insbesondere auch in Deutschland, wachsen. Er versucht damit, genauso wie mit dem Drehen am Gashahn – mal auf, mal zu – den Rückhalt für unsere Unterstützung der Ukraine zu unterminieren. Damit will Putin uns an einem ganz sensiblen Punkt treffen. Im Gegensatz zu autoritären Regimen wie China oder Russland braucht man in einer liberalen Demokratie immer auch gesellschaftliche Akzeptanz für politische Entscheidungen. Und deswegen müssen wir kommunikativ hochprofessionell gegen diese Lügenmärchen und propagandistischen Kampagnen von Putin vorgehen. Ich habe den Eindruck, dass wir noch nicht so gut aufgestellt sind, wie wir das eigentlich sein müssten. Denn das Gift der hybriden Kriegsführung Russlands breitet sich auch in Deutschland aus.

Der Bundesregierung wird vorgeworfen, Waffenlieferungen mindestens zu verzögern, wenn nicht gar zu verhindern. Ist diese Kritik berechtigt?

Zugegebenermaßen hat es in Deutschland eine gewisse Zeit gebraucht, bis auch wir bereit waren, Waffen, vor allem auch schwere Waffen, zu liefern. Inzwischen kann sich aber das, was Deutschland gemeinsam mit anderen Partnern geliefert hat, sehen lassen. Wir erleben ja tagtäglich, dass auch die von Deutschland gelieferten Waffen dazu beitragen, dass sich die Ukraine militärisch zu behaupten vermag. Konkret geht es nun um die Frage, ob wir jetzt auch Schützen- und Kampfpanzer liefern. Hier plädiere ich für eine abgestimmte europäische Lösung, weil ich respektiere, dass die Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz, keine nationalen Alleingänge vornehmen möchte. Ich sehe die Chance, dass wir gemeinsam mit weiteren europäischen Staaten und mit Billigung der USA Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern könnten. Wir befinden uns derzeit in einer neuen Phase des Krieges, es geht jetzt vor allem darum, dass die Ukraine weiter in die Offensive kommt, um von Russland besetzte Gebiete zu befreien. Das könnte dann auch die Voraussetzungen dafür schaffen, endlich zu einer diplomatischen Lösung zu kommen mit dem Ziel, diesen furchtbaren Krieg zu beenden. Aber das gelingt nur, wenn die Ukraine stark und wehrhaft bleibt und Putin einsieht, dass er diesen Krieg militärisch nicht mehr gewinnen kann. Erst dann dürfte er sich gezwungen sehen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Wie aktiv ist Deutschland dabei, beim Thema Waffenlieferungen den Austausch mit den Verbündeten zu suchen?

In dieser zentralen Frage gibt es einen regelmäßigen Austausch. Wir fordern ja mehr europäische Souveränität, die auch mit Verantwortung einhergeht. Ob wir in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mehr Verantwortung zu übernehmen bereit sind, entscheidet sich derzeit vor allem am Umgang mit der Ukraine. Ich habe den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten selbst keine Kampfpanzer liefern wollen, sie aber eine abgestimmte europäische Initiative unterstützen würden. Damit käme es nicht zu einem nationalen Alleingang, wir würden aber Führungsverantwortung und europäische Souveränität im konkreten Handeln unter Beweis stellen. Das wäre für mich ein ermutigendes Zeichen für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union und vor allem auch des europäischen Pfeilers der NATO.

Sie haben es angesprochen, gegen die Erpressungsversuche von Putin hat die EU noch keine Antwort gefunden. Was muss sich ändern?

Die Europäische Union ist nur dann stark und handlungsfähig, wenn sie geschlossen auftritt und wenn sie sich nicht spalten lässt. Auch ein ungarischer Ministerpräsident Victor Orbán muss am Ende wissen, dass Russland ihn nur als Figur in einem perversen Schachspiel missbraucht. Es geht hier nicht um ungarische Interessen, die von Putin ernster genommen werden als beispielsweise durch Verantwortliche in Brüssel, Berlin oder in anderen europäischen Hauptstädten. Es wäre sicherlich hilfreicher, wir hätten in zentralen Fragen, wie beispielsweise bei der Verabschiedung von Sanktionen, Mehrheitsabstimmungen im Rat der EU. Dennoch sollten wir nichts unversucht lassen, auch unsere Partner davon zu überzeugen, dass niemand in der Europäischen Union sich zur Spielfigur von autoritären Regimen degradieren lässt. Irgendwann wird man dafür eine Rechnung bekommen, die sehr hoch sein wird. Davor kann ich nur eindringlich warnen.

In Schweden haben Rechtsradikale einen großen Wahlerfolg erzielt, bei den Wahlen in Italien kommende Woche liegen in Umfragen rechte Parteien, teils aus Russland finanziert, vorn. Putin spielt hier seine Schachfiguren aus. Droht die Einheit der EU damit zu bröseln?

Manche meinen, dass es Nationalismus und Populismus nur in Mittel- und Osteuropa gebe. Aber die genannten Wahlergebnisse oder -umfragen machen ja deutlich, dass sie im Norden, im Süden, im Westen und im Osten Europas eine konkrete Gefahr sind. Ich kann nur alle Demokratinnen und Demokraten aufrufen, sich dem mutig entgegenzustellen. Wir wissen, dass Putin und seine Helfershelfer in den vergangenen Jahren systematisch nationalistische und populistische Parteien in der EU mitfinanziert und unterstützt haben. Ich kann nur hoffen, dass sich gestandene Konservative und Mitte-rechts-Parteien nicht mit Faschisten und Nationalisten in ein Bett legen. Man muss sowohl von Mitte-links-, aber vor allem auch von Mitte-rechts-Parteien erwarten können, dass wir uns, bei allem notwendigen Streit in der Sache, geschlossen dem auch aus Russland finanzierten Nationalismus und Populismus entgegenstellen. So viel Grundkonsens brauchen wir in unseren Demokratien, die ja weltweit unter einem massiven Druck stehen.

Autoritäre Kräfte haben in den vergangenen Jahren an Stärke gewonnen, demokratische Entwicklungen wurden zurückgedrängt oder sind bedroht. Deshalb spielt ja auch die Europäische Union als eine Gemeinschaft der Werte, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit eine nach wie vor ganz zentrale Rolle: Wir müssen beweisen, dass liberale und soziale Demokratien Krisen meistern und ihre Menschen schützen können.

Dieser Tage trifft sich Putin mit Chinas Staatschef Xi Jinping auf dem Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Entsteht dort eine globale Gegenbewegung zum Westen?

Den Versuch, eine Gegenbewegung zu schaffen, gibt es ja schon seit Jahren. Aber dies ist ein sehr fragiles Bündnis, was sich alleine aus einer Ablehnung von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit zusammenfindet, die ja keine westlichen, sondern universale Werte sind. Ich kann dazu nur raten, sehr selbstbewusst ein internationales Bündnis mit Demokratien und Rechtsstaaten zu schmieden. Demokratische Gesellschaften, die für mehr Gerechtigkeit, für mehr Freiheit, aber auch für mehr Wohlstand sorgen, sind widerstandsfähiger. Wir brauchen eine selbstbewusste Debatte über den konkreten Beitrag von liberalen und sozialen Demokratien für Wohlstand, Sicherheit und Freiheit.