Die Fragen stellte Alexander Isele.
Die Präsidentschaftswahl in Ecuador am Sonntag war überschattet vom Mord am Oppositionskandidaten Fernando Villavicencio. Wie verlief der Urnengang?
Anders als von vielen Beobachtern befürchtet, sind die Wahlen ruhig und ohne weitere wesentliche Zwischenfälle verlaufen. Mit 82,26 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung war die Wahlbeteiligung bei Wahlpflicht in etwa so hoch wie bei den letzten Wahlen. Förderlich für den Ablauf war sicherlich auch, dass diesmal keine exit polls, also Wahltagsbefragungen publiziert wurden. Diese haben in der Vergangenheit oft noch während der Wahl für Unruhe und Verwirrung gesorgt. Einzig bei der Abstimmung der im Ausland lebenden Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer scheint es zu schweren technischen Problemen gekommen zu sein und der Anteil der abgegebenen Stimmen dieser Gruppe ist ungewöhnlich gering. Auf das Gesamtergebnis hat dies allerdings kaum Auswirkungen.
Die Favoritin für das Präsidentenamt Luisa González hat die meisten Stimmen geholt, muss aber am 15. Oktober in die Stichwahl. Was ist von ihr zu erwarten?
Luisa González hat mit 33,47 Prozent und über 3,2 Millionen der gültigen Stimmen klar die Wahl gewonnen. Sie ist damit die erste Frau in der Geschichte Ecuadors, die im ersten Wahlgang so viele Stimmen auf sich vereinen konnte. Sie trat für die linke „Bürgerrevolution“ (Revolucion Ciudadana, RC) an, die gemeinhin als die Partei des Correismo bezeichnet wird, aufgrund der fortdauernden Bedeutung des Expräsidenten Rafael Correa, der im Exil in Belgien lebt. Innerhalb des Correismo gilt González, die selbst verschiedene leitende Funktionen in den Regierungen Correas bekleidete und in der letzten Legislatur die Provinz Manabí in der Nationalversammlung für die RC vertrat, als treue Anhängerin Correas und Teil des in gesellschaftspolitischen Fragen konservativen Lagers. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern in den Regierungen unter Rafael Correa ist ihr fremd. Ganz im Gegenteil wurden die Erfolge der Regierungszeit Correas als probates Mittel gegen die heutigen Probleme in Ecuador propagiert. „Ya lo hicimos“ – „So, wie wir es schon einmal gemacht haben“ – war daher auch der Slogan ihrer Kampagne.
Ein Sieg González’ im zweiten Wahlgang ist bei weitem nicht sicher.
Obwohl sie im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, ist ein Sieg im zweiten Wahlgang bei weitem nicht sicher. González konnte zwar die Stimmen der Anhängerschaft des Correismo mobilisieren, gewann allerdings im Vergleich zum Wahlergebnis des correistischen Kandidaten Andrés Arauz in 2021 nur geringfügig Stimmen hinzu. Wie in 2021 ist es möglich, dass Gonzalez es nicht schafft, im zweiten Wahlgang Wählerinnen und Wähler von sich zu überzeugen, die dem Correismo nicht zugeneigt sind. Im Falle eines Wahlsiegs in der zweiten Runde müsste González womöglich ohne eigene legislative Mehrheit regieren. In der kommenden Nationalversammlung stellt die RC zwar mit bis zu 54 Sitzen die stärkste Kraft, sieht sich aber mit einer Mehrheit aus mehreren konservativen Parteien in der 137-köpfigen Nationalversammlung konfrontiert.
In der Stichwahl trifft González auf den zweitplatzierten Bananen-Unternehmer Daniel Noboa. Wofür steht er und wie sind seine Chancen?
Nur die wenigsten Analysten hatten mit dem guten Abschneiden des erst 35-jährigen Daniel Noboa gerechnet. Unter anderem weil der Sohn des schwerreichen Unternehmers und fünfmaligen Präsidentschaftskandidaten Álvaro Noboa zu Beginn des Wahlkampfes in Umfragen einen nur einstelligen prozentualen Stimmenanteil aufwies. Dank der Dynamik des Wahlkampfes und seiner guten Performance in der einzigen Fernsehdebatte profilierte er sich aber in den letzten Tagen vor der Wahl als neue und unbefangene konservativ-liberale Alternative zum gesamten politischen Establishment. Er selbst gibt sich als smarten und dialogbereiten Macher, der die politischen Grabenkämpfe der Vergangenheit hinter sich lässt, eine ideologische Festlegung scheut und das Land in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft reformieren will. Seine Chancen im zweiten Wahlgang sind nicht zu unterschätzen, unter anderem da die zweit-, dritt- und viertplatzierten Kandidaten alle aus dem konservativen Lager stammen und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass deren Wählerinnen und Wähler im zweiten Wahlgang ihre Stimmen Daniel Noboa geben.
Der drittplatzierte Kandidat, Christian Zurita, der anstelle des ermordeten Villavicencio antrat, berichtete von Morddrohungen gegen ihn. In den vergangenen Jahren hat die Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker stark zugenommen. Wer will sich unter solchen Bedingungen noch engagieren? Was bedeutet das für die ecuadorianische Demokratie?
Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich die Gewaltspirale in Ecuador nochmal verschärft und Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker, aber auch gegen andere Repräsentantinnen des Staates aus Justiz, Polizei bis zu Beamten im Gesundheits- oder Schulsystem, hat enorm zugenommen. Ein Grund dafür ist auch, dass kriminelle Organisationen ihre Einnahmequellen diversifizieren, Schutzgelder erpressen oder staatliche Autoritäten einschüchtern oder korrumpieren. Hinzu kommen die Defizite der Strafverfolgungsbehörden und des Justizsystems. Viele junge Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer sehen ihre Zukunft daher nicht im Land. Legale und illegale Auswanderung nehmen seit der Pandemie dramatisch zu. Abseits der Sicherheitsproblematik ist insgesamt festzustellen, dass die Demokratie in Ecuador im Allgemeinen in der Krise steckt. Laut Umfragen schwindet das Vertrauen in die Demokratie und die demokratischen Institutionen seit Jahren und ein wachsender Teil der Bevölkerung zeigt sich offen für autoritäre Regierungsformen.
Besteht die Gefahr, dass die demokratische Regierung in der Zukunft ihre Macht faktisch an die Banden verliert? Wie realistisch ist eine Bekämpfung der Drogenbanden?
Ecuador und vor allem die kommende Regierung stehen vor großen Herausforderungen im Bereich des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität. Zum einen, weil der internationale Kontext des Drogenhandels sich verändert hat. Ecuador ist zu einem der wichtigsten Exportknotenpunkte für die Verschiffung von Drogen, primär Kokain, nach Europa und vermehrt auch nach Afrika und Asien geworden. Gerade seit der Pandemie hat der Konsum dieser Droge in Europa neue Höchststände erreicht. Zum anderen wirkt sich der Friedensprozess in Kolumbien negativ auf die Situation in Ecuador aus. Dort wurde die an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze angesiedelte hegemoniale FARC-Guerilla aufgelöst und zahlreiche neue kriminelle und vor allem rein gewinnorientierte Organisationen sind entstanden. Diese Grenzregion ist dadurch deutlich permeabler für den Drogenschmuggel geworden. Schließlich hat die fortwährende Rivalität zwischen den bedeutendsten mexikanischen Drogenkartellen, von denen die ecuadorianischen Banden jeweils abhängig sind, negative Konsequenzen, da sie die gewaltsamen Konflikte um Territorium und Kontrolle nach Ecuador ausweiten und intensivieren.
Ecuador ist zu einer der wichtigsten Exportknotenpunkte für die Verschiffung von Drogen geworden.
Zu diesen negativen internationalen Kontextfaktoren kommt hinzu, dass sich das Land bis heute nicht von den extremen sozialen und ökonomischen Einschnitten in der Pandemie erholen konnte. So haben gerade in den Küstenprovinzen, in denen Armut und Perspektivlosigkeit weit verbreitet sind, kriminelle Organisationen leichtes Spiel, Jugendliche anzuwerben und dadurch zu wachsen. Zählt man dazu noch die Auswirkungen der Austeritätspolitik der Regierungen unter Lenin Moreno und Guillermo Lasso, die insgesamt zu einer massiven Schwächung der staatlichen Institutionen und Präsenz geführt haben, sind die Herausforderungen für kommende Regierungen enorm. Beispielhaft sind hier die ecuadorianischen Gefängnisse zu nennen, in denen die Drogenbanden mittlerweile die Kontrolle übernommen haben und die sich als Schaltzentralen des organisierten Verbrechens herauskristallisieren. Hinzu kommt, dass gerade die Regierung unter Guillermo Lasso trotz klarer Warnsignale vor einer umfassenden Reform der staatlichen Sicherheitsorgane, insbesondere der Polizei, zurückgeschreckt ist. Reformen in diesem Bereich werden also nicht ohne Widerstände ablaufen, obwohl gerade die Sicherheitsorgane sowie das Justizsystem anfällig für die Korrumpierung durch das organisierte Verbrechen sind. Gerade daher ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wichtig, um das Land bei einer integralen Sicherheitsreform, die auch die sozialen und ökonomische Faktoren mit einbezieht, zu unterstützen.
Zeitgleich zu den Präsidentschaftswahlen fand auch ein Referendum über die Ölförderung im Regenwaldgebiet Yasuní statt. Mit 60 Prozent lehnen die Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer die Erschließung der Ölfelder ab. Was erwartet Ecuador nun von der internationalen Gemeinschaft?
Die Ergebnisse der Abstimmung über die Weiterführung der Erdölerschließung im Yasuní-Gebiet, wie auch die auf die Einwohnerinnen und Einwohner im Großraum Quito beschränkte Abstimmung über das Verbot des Bergbaus im Biosphärengebiet Choco Andino, sind ein wichtiger Erfolg vor allem für die außerparlamentarische Umweltbewegung in Ecuador. Die Ergebnisse zeigen, dass große Teile der Bevölkerung das extraktivistische Wirtschaftsmodell und dessen negative Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zunehmend kritisch betrachten und Veränderungen wollen. Wichtig ist auch zu wissen, dass das Referendum um das Yasuní-Gebiet, in dem cirka zehn Prozent der jährlichen Erdölförderung des staatlichen Erdölunternehmens Petroecuador mit rückläufiger Tendenz stattfindet, auf einen Kampf der sozialen Bewegungen zurückgeht, der bereits in der Regierungszeit Raffael Correas begann und sich unter den Folgeregierungen unter Lenin Moreno und Guillermo Lasso fortsetzte. Trotz aller Unterschiede war diesen Regierungen gemein, vollumfänglich auf die Ausweitung der Förderung von Erdöl und anderen Bodenschätzen zu setzen. Alternativen zur Abhängigkeit von Öl und Bergbau wurden dagegen kaum diskutiert oder verfolgt.
Große Teile der Bevölkerung betrachten das extraktivistische Wirtschaftsmodell zunehmend kritisch.
Das Ergebnis der Referenden ist daher auch eine Chance für die kommende Regierung, diese notwendige Diskussion neu zu beginnen. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, sollte alles tun, um das Land bei der Transition zu einer post-extraktivistischen Wirtschaft zu unterstützen, sowie bei der Entwicklung von transparenten Lösungen für den nachhaltigen und langfristigen Schutz des Yasuní-Gebiets, das zu den megadiversen und artenreichsten Waldgebieten des Landes und der Amazonasregion gehört.