Das Interview führte Claudia Detsch.

In Deutschland ist die Zahl der wöchentlichen Erwerbsarbeitsstunden von Frauen so niedrig wie in kaum einem anderen europäischen Land. Die meisten Frauen arbeiten Teilzeit. Warum ist das so?

Die Politik spricht gerne von der hohen Erwerbstätigenquote von Frauen hierzulande. Tatsächlich liegen wir im europäischen Vergleich damit im guten Mittelfeld. Geht es um die Arbeitsstunden erwerbstätiger Frauen, liegen wir allerdings ganz hinten. Das ist insbesondere bei verheirateten Frauen der Fall. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind groß. Erwerbstätige verheiratete Frauen in Frankreich arbeiten zum Beispiel über 200 Stunden mehr im Jahr als deutsche Frauen. Die durchschnittlichen Erwerbsarbeitsstunden einer verheirateten Frau sind nur in Italien niedriger als in Deutschland. Im deutschen Steuersystem werden mit dem System des Ehegattensplittings starke Anreize für den Zweitverdiener gesetzt, gar nicht oder nur wenige Stunden zu arbeiten.

Könnte es nicht schlicht daran liegen, dass wir wohlhabender sind als andere Länder und viele Familien nicht notwendigerweise zwei volle Einkommen benötigen?

In den USA sind die Arbeitsstunden von Frauen sehr hoch und auch das Durchschnittseinkommen ist höher als bei uns. Und in den weniger wohlhabenden südeuropäischen Ländern sind die Arbeitsstunden von Frauen eher niedrig. Es lässt sich also kein negativer Zusammenhang zwischen Arbeitsstunden von Frauen und dem Durchschnittseinkommen eines Landes beobachten.  

Gibt es in anderen Industrienationen vergleichbare Systeme wie das deutsche Ehegattensplitting?

Wir haben in einer Studie die Steuersysteme 17 europäischer Länder sowie der USA verglichen. Man kann unterscheiden zwischen Systemen getrennter Besteuerung und gemeinsamer Besteuerung. Getrennte Besteuerung bedeutet, dass für den Steuersatz nur das eigene Einkommen eine Rolle spielt, nicht aber das Einkommen des Partners. Gemeinsame Besteuerung heißt zunächst, dass für den Steuersatz nicht nur das eigene Einkommen, sondern auch das Einkommen des Partners eine Rolle spielt. Das kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Im europäischen Vergleich hat Deutschland neben Belgien die stärksten Elemente der gemeinsamen Besteuerung. Es gibt vier Länder in Europa, die komplett getrennte Steuersysteme haben: Griechenland, Ungarn, Schweden und Großbritannien. Alle anderen haben gewisse Elemente der gemeinsamen Besteuerung, aber kein Land so stark wie Deutschland.

Sehen Sie eine direkte Korrelation mit der Erwerbstätigkeit von Frauen?

Ja. In Belgien, Deutschland, Irland, den Niederlanden und Italien sind die Effekte der gemeinsamen Besteuerung am stärksten. Gleichzeitig sind das mit einer gewissen Ausnahme im Falle Belgiens die Länder, in denen verheiratete Frauen vergleichsweise wenig arbeiten.

Welche Konsequenzen hat das deutsche Steuersystem für die Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt?

Das Ehegattensplittung führt zu einer Minimierung der Steuerlast des Ehepaares. Wenn zwei Menschen heiraten, dann kann ihre Steuerlast nur sinken oder schlimmstenfalls gleichbleiben. Das Ehegattensplitting impliziert aber eben auch, dass beide Ehegatten den gleichen Grenzsteuersatz haben. Das heißt, für jeden zusätzlichen Euro, den sie verdienen, werden sie genau gleich besteuert. Normalerweise haben wir im progressiven Steuersystem den Effekt, dass jemand, der gut verdient, einen hohen Grenzsteuersatz hat, für jeden zusätzlichen Euro also sehr hoch besteuert wird. Jemand, der wenig verdient, hat dagegen nur einen geringen Grenzsteuersatz.

10 Jahre nach der Geburt des ersten Kindes verdienen deutsche Frauen weniger als die Hälfte von dem, was sie im Jahr vor der Geburt des ersten Kindes verdient haben.

Im Gegensatz zu einem System der getrennten Besteuerung sieht sich der Zweitverdiener also im System des Ehegattensplitting bei der Ausweitung seiner oder ihrer Arbeitsstunden mit dem höheren gemeinsamen Grenzsteuersatz des Ehepaares konfrontiert. Das senkt die Anreize, mehr zu arbeiten. Das Ehegattensplitting setzt entsprechend Anreize innerhalb der Familie, sich zu spezialisieren: einer ist auf dem Arbeitsmarkt tätig und der andere eher im Haushalt. Das hat einen großen Effekt gerade bei Müttern, die empirisch eine sehr hohe Arbeitselastizität haben, die öfter am Arbeitsmarkt ein- oder austreten oder ihre Stunden erhöhen oder reduzieren. Im internationalen Vergleich ist der Einkommensverlust durch Mutterschaft in Deutschland besonders hoch. Vergleicht man die Einkommen zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes zu den Einkommen im letzten Jahr vor der Geburt, dann lässt sich in allen europäischen Ländern ein Rückgang der Einkommen von Müttern beobachten. Aber in den skandinavischen Ländern sind die Einkommen zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes ungefähr 20 Prozent niedriger als vor der Geburt des Kindes, in angelsächsischen Ländern eher 40 Prozent und in Deutschland ganze 60 Prozent. Das heißt, 10 Jahre nach der Geburt des ersten Kindes verdienen deutsche Frauen weniger als die Hälfte von dem, was sie im Jahr vor der Geburt des ersten Kindes verdient haben.

Das deutsche Steuersystem basiert auf dem traditionellen Rollenbild. Was heißt das für die steuerliche Situation von Alleinerziehenden, die in dieses Rollenbild nicht reinpassen?

Das Ehegattensplitting wurde in Deutschland 1958 eingeführt. Das letzte große Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu stammt von 1982. Darin ist von der „wirtschaftlichen Realität der intakten Durchschnittsehe“ die Rede. Das war damals die Vorstellung und in gewissem Maße auch die Realität: die meisten Menschen schließen eine Ehe, diese Ehen halten ewig und Kinder werden in Ehen hineingeboren. Beim Ehegattensplitting wird häufig argumentiert, es diene der Unterstützung von Familien und Kindern. Aber es wirkt völlig unabhängig davon, ob man Kinder hat oder nicht. Die gesellschaftliche Realität hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Die Scheidungsraten sind stark gestiegen, was zu mehr Alleinerziehenden führt. Immer mehr Kinder werden zudem außerhalb einer Ehe geboren. Das Ehegattensplitting war als Instrument der Familienpolitik vielleicht in den 60er oder 70er Jahren geeignet, heute aber sicher nicht mehr.

Zudem wurde in Deutschland 2008 das Unterhaltsrecht grundlegend reformiert. Nach einer Scheidung hat der Ehepartner mit geringeren Einkünften kein Anrecht mehr auf die Aufrechterhaltung eheähnlicher Lebensverhältnisse. Hier zeigt sich in der Gesetzgebung eine absolute Diskrepanz. Einerseits setzt man während der Ehe durch die Steuerpolitik Anreize, sich zu spezialisieren, so dass ein Partner vom anderen wirtschaftlich abhängig wird, und andererseits steht nach einer Scheidung jeder allein da. Früher war das System in sich schlüssig. Heute passt das Ehegattensplitting in das ganze System und die gesellschaftliche Realität nicht mehr hinein.

Über die Abschaffung des Ehegattensplittings und eine Besserstellung von Familien und insbesondere Alleinerziehenden wird seit Jahren debattiert. De facto aber passiert sehr wenig. Warum sind die Beharrungskräfte bei diesem Thema so groß bzw. der öffentliche Druck so gering?

Durch das Ehegattensplitting wird die Steuerlast für Ehepaare minimiert. Würde man nun dazu übergehen, beide Ehepartner so zu besteuern, wie sie als Singles besteuert würden, würde sich die Steuerlast des Ehepaares erhöhen. Das gilt für alle Ehepaare, eine Ausnahme sind lediglich Paare, die exakt gleich viel verdienen – da bliebe die Besteuerung gleich. Das führt dazu, dass verheiratete Personen meist per se gegen diese Reform sind.

Wie ließe sich Unterstützung gewinnen?

Eine solche Reform wäre ein großer Einschnitt. Er müsste einhergehen mit steuerlichen Entlastungen an anderer Stelle. Man könnte die zusätzlichen Steuereinnahmen beispielsweise in eine Familienunterstützung fließen lassen. Man muss sich aber auch klar machen, für wen sich die Steuerlast insbesondere erhöhen würden. Die Steuer erhöht sich umso mehr, je unterschiedlicher die Einkommen der beiden Ehepartner sind, und um einen großen Unterschied zu haben, muss man zunächst einmal viel verdienen. Das heißt, de facto wären Gutverdienende von einer solchen Reform besonders stark betroffen. Da sind starke politische Beharrungskräfte am Werk. Viele Parlamentarier würden selbst zu den Verlierern zählen.

Das Ehegattensplitting war als Instrument der Familienpolitik vielleicht in den 60er oder 70er Jahren geeignet, heute aber sicher nicht mehr.

Und Alleinerziehende beispielsweise haben keine öffentliche Lobby?

Zumindest eine geringere. Man kann das auch polit-ökonomisch betrachten. Die gesellschaftlichen Gruppen, die über politisch stärkeren Einfluss verfügen, würden eher zu den Verlierern zählen. Daher müsste man eine Reform des Ehegattensplittung klug einbauen in eine größere Reform des Steuersystems.                                                                       

Wie müsste eine solche Reform ausgestaltet sein, um ein progressives Steuersystem zu schaffen, das Gleichberechtigung fördert und gleichzeitig Familien tatsächlich besserstellt?

Man könnte über den kompletten Übergang in die getrennte Besteuerung nachdenken und diesen mit anderen Reformen verknüpfen. Das wäre tatsächlich ein großer Einschnitt, den aber auch andere Länder vollzogen haben. Schweden hat das System der gemeinsamen Besteuerung in den 50er Jahren abgeschafft, Großbritannien 1990. Das erfolgte oft schrittweise. Eine andere Möglichkeit wäre das Familiensplitting. Das ist zwar einerseits dem Ehegattensplitting ähnlich, da es ebenfalls die Grenzsteuersätze angleicht. Es bezieht dabei aber Kinder mit ein, so dass kinderreiche Familien und auch Alleinerziehende mit Kindern davon profitieren würden. Frankreich hat ein solches System.

Sehen Sie aktuell, dass Bewegung in die Debatte kommt?

Vor Wahlen wird eine Abschaffung des Ehegattensplittings immer wieder debattiert. In der Regel sprechen sich die Grünen und die SPD dafür aus. Nach den Wahlen verschwindet das Thema regelmäßig wieder.

Damit rechnen Sie auch für die nächsten Wahlen?

Ich bin nicht sehr optimistisch, dass sich in absehbarer Zeit etwas tut. Dabei wäre das eine Maßnahme mit starker Signalwirkung. Als Wirtschaftswissenschaftlerin stelle ich Modelle auf und berechne, wie sich das Arbeitsangebot der Menschen verändert, wenn sich die steuerlichen Anreize verändern. Aber politische Maßnahmen haben nicht nur eine reine wirtschaftliche Anreizwirkung, sondern auch eine Signalwirkung. Politische Maßnahmen verändern gesellschaftliche Normen, und diese sind in Bezug auf das Arbeitsverhalten von Müttern in Deutschland noch recht konservativ. Umfragen zeigen, dass in skandinavischen Ländern weniger als 10 Prozent der Bevölkerung es nicht gut finden, wenn eine Mutter von Schulkindern oder kleineren Kindern arbeitet, in Deutschland aber immer noch fast 40 Prozent. Eine Reform des Ehegattensplittings hätte eine starke Signalwirkung gegen die Spezialisierung von Ehemännern auf den Arbeitsmarkt und Ehefrauen auf Haushalt und Kinder.