Am Sonntag kommt es in Brasilien zur Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und Aécio Neves. Auf welche Strategie setzt Rousseff bis zum Wahltag?

Im ersten Wahlgang hatte Rousseff es schwer, gegen ein mediales Dauerfeuer anzukommen, das zu Gunsten der Opposition eingesetzt hatte und hierfür auch die Fußballweltmeisterschaft instrumentalisieren konnte. Ihr Wahlkampf wurde in erster Linie dazu genutzt, die Leistungen der letzten drei Regierungen hervorzuheben und einen kontinuierlichen Fortschritt zu versprechen. Trotz der eindeutigen Entwicklungsergebnisse in der letzten Dekade war dies aber nicht genug. Die zahlreichen Defizite wurden von der Opposition und den Medien zu einem negativen Gesamtbild geformt. Die Regierung und auch die PT hatten es in den Regierungsjahren versäumt, ein eigenes Narrativ ihrer Leistungen herzustellen und zu verbreiten.

Aber natürlich handelt es sich nicht nur um ein mediales Konstrukt. Die großen Proteste im Jahr 2013 belegen den starken Wunsch vieler Menschen nach einem schnelleren und tiefergreifenden sozialen Fortschritt, vor allem nach einer Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen. Dieser Wunsch wurde nicht nur von Opposition und Medien als Wunsch nach politischem Wandel interpretiert, sondern hat sich auch tatsächlich in bestimmten Wählerschichten verankert.

Der Wahlkampf von Rousseff setzt darauf, die Wahl als eine Wahl zwischen zwei Entwicklungsmodellen darzustellen und Aécio Neves als Kandidaten der Oberschicht und des Rückschritts zu denunzieren.

So setzt der Wahlkampf von Rousseff bis zum letzten Tag darauf, die Wahl als eine Wahl zwischen zwei Entwicklungsmodellen darzustellen und Aécio Neves als den Kandidaten der Oberschicht und des Rückschritts zu denunzieren. Dass dies trotz der Hitze des Wahlkampfes nicht nur an den Haaren herbeigezogen ist, belegen inzwischen auch zahlreiche Äußerungen seiner Mitstreiter. „Brasilien braucht mehr Arbeiter, die weniger verdienen“, war einer der jüngsten und unvorsichtigen Kommentare des wirtschaftspolitischen Beraters von Aécio Neves.

Lulas und Rousseffs vorsichtige Politik des „Wachstums und der Umverteilung“ ist sicher unvollständig und inzwischen zum Teil auch brüchig. Sie steht tatsächlich prinzipiell gegen ein Modell, das prioritär Markterfordernisse durch weniger Staat, weniger Regulierung, etwa im Bereich des Arbeitsrechts, sowie durch vorrangige Bekämpfung der Inflation bedienen will.

Neves versucht glaubhaft zu machen, dass keines der großen Sozialprogramme, mit denen in der letzten Dekade die Armut drastisch reduziert werden konnte, zur Disposition steht. Vielmehr gehe es um deren Verbesserung. Er äußert sich kaum zu konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Im Prinzip kommt dieser Lagerwahlkampf, der zeitweise durch den Umfrageerfolg von Marina Silva aufgehoben wurde, der PT-Kandidatin aber entgegen.

Was sagen denn die aktuellen Umfragen?

Noch drei Wochen vor dem ersten Wahlgang schien laut Umfragen klar, dass Marina Silva, die ehemalige Umweltministerin der Regierung Lula, es nicht nur in den zweiten Wahlgang schaffen würde, sondern auch die besten Chancen hätte, Präsidentin zu werden. Erst eine Woche vor der Wahl zeichnete sich ein Anstieg der Wählerpräferenz für Neves ab, der dann schließlich mit fast 34 Prozent ein Ergebnis einfuhr, das über dem Doppelten der vorherigen Umfrageergebnissen lag. Silva lag mit etwa 21 Prozent nicht wesentlich über ihrem Resultat von 2010. Rousseff erhielt fast 42 Prozent der Stimmen, fünf Prozent weniger als 2010. Aber drei Wochen zuvor hatte sie in den Umfragen nur 36 Prozent erreicht.

Dieses Phänomen scheint sich nun zu wiederholen. Die meisten Umfragen belegten nach dem ersten Wahlgang ein technisches Patt zwischen den beiden Kandidaten, bei einem Vorsprung von vier Prozent von Neves. Heute, vier Tage vor dem zweiten Wahlgang, sprechen die Umfrageergebnisse zwar immer noch von einem Kopf-an-Kopf-Rennen, doch der Abstand hat sich zugunsten von Rousseff umgedreht.

Doch die Seriosität der Umfragen ist mehr als fraglich. Auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem ersten Wahlgang. Die großen Medienkonzerne, die die Umfragen in Auftrag geben, haben klare Präferenzen. Doch ihre Priorität ist heute im Gegensatz zu den vergangenen Wahlen nicht so sehr ein bestimmter Kandidat, als vielmehr das Ziel, eine erneute Regierungsperiode unter der PT zu verhindern.

Auch Lula mischt aktiv im Wahlkampf mit. Wird das einen Unterschied machen? Und: Arbeitet er insgeheim an einem Comeback?

Lula ist das beste Zugpferd der Kandidatin, der PT und der Parteienkoalition, die Rousseff stützt. Mehr noch: Lula ist gleichzeitig Wahlkampfstratege und Wahlkampfmaschine. Niemand war bisher so wie er in der Lage, Kandidaten aufzubauen und Wahlen zu gewinnen. Das beste Beispiel ist Rousseff und der Bürgermeister von São Paulo. Allerdings ist es auch kein Geheimnis, dass es innerhalb der PT vor den Wahlen eine starke Bewegung gab, die eine Kandidatur Lulas verfolgte. Lula selbst beendete alle Spekulationen und stärkte Rousseff den Rücken. Für 2018 ist er aber durchaus eine Option. Ob er tatsächlich kandidieren wird, hängt auch von diesem Wahlergebnis und den politischen Resultaten der nächsten vier Jahre ab.

Silva hat sich nach der ersten Wahlrunde auf die Seite von Neves geschlagen. Wie ist das zu beurteilen?

Nach dem ersten Wahlgang im Jahr 2010 blieb Silva neutral. Das heißt, sie rief ihre Wähler nicht zur Wahl von einem der beiden verbliebenen Kandidaten auf. Mit 19 Prozent lag sie immerhin an dritter Stelle. Nun hat Silva mit ihrer Entscheidung Neves zu unterstützen ihre politische Glaubwürdigkeit untergraben, die sie, ähnlich wie Lula, aus ihrer Herkunft und ihrem Lebenslauf akkumuliert hat. Für viele Wähler stellt sie eine progressive Option dar, deren sozialpolitische Vorstellungen weitgehend mit denen der PT übereinstimmen. Zudem steht sie für Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das sind Politikfelder, in denen viele der PT und auch der Regierung Mankos bescheinigen.

Zugleich ist Silvas Entscheidung aber durchaus kohärent mit den außen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielen ihres Programms. Ihre von ihrer Mitgliedschaft in einer der großen evangelikalen Kirchen beeinflussten Positionen in werteorientierten Themen, ihre Vorschläge hinsichtlich wirtschaftspolitischer Liberalisierung, ihre Konzentration auf Handelspolitik als Motor wirtschaftlicher Entwicklung sowie ihre angestrebte außenpolitische Reorientierung sind im brasilianischen politischen Kontext dem konservativen Lager zuzurechnen. Sie unterscheiden sich tatsächlich nicht substantiell von denen Aécio Neves´.

Sollte sich bestätigen, dass Silva ihre zuvor ausgeschlossene Unterstützung Neves´ mit dem Zugang zu politischen Machtpositionen verknüpft haben sollte, wird auch ihr Diskurs einer „neuen Politik“ Glaubwürdigkeit verlieren. Mit diesem Slogan hatte sie ja immer wieder die gängige Form politischer Kuhhandel kritisiert.

Aécio Neves von der PSDB hatte offenbar bislang Schwierigkeiten, in ärmeren Wählerschichten zu punkten. Welche symbolischen und faktischen Auswirkungen hätte ein Sieg von Neves?

Seit etwa zwei Dekaden gilt ein schichtenspezifisches Wahlverhalten: Je ärmer, desto eher ging die Stimme an den Präsidentschaftskandidaten der PT. Je wohlhabender, desto eher fiel die Wahl auf den Kandidaten des PSDB. Allerdings hat diese Logik abnehmende Bedeutung. Der soziale Fortschritt in der vergangenen Dekade hat auch zu einer Veränderung der Wählerpräferenzen geführt. Viele Wähler verstehen ihren sozialen Aufstieg nicht mehr so sehr als Resultat politischer Richtungsentscheidungen, sondern eher als Folge persönlicher Anstrengungen – wenn nicht gar gleich als göttliche Fügung.

Zudem gibt es starke regionale Disparitäten in der Wahlpräferenz: Ohne den Bundesstaat São Paulo wäre Rousseffs Sieg eindeutig. Der Bundesstaat umfasst fast ein Viertel der Wähler. Gerade im traditionell PT-kritischen São Paulo hat die Kandidatin weniger Stimmen denn je erhalten.

Ein Wahlsieg von Neves hätte eine starke Symbolik für Lateinamerika. Er würde das Auslaufen eines Zyklus linker Regierungen symbolisieren.

Aécio Neves ist ein Vertreter der traditionellen brasilianischen Politik. Er ist Enkel des ersten Präsidenten nach der Diktatur und Teil der brasilianischen Elite. Diese ist eng mit den Interessen des Agrarbusiness und des Finanzsektors verbunden. Ein Wahlsieg von Neves hätte eine starke Symbolik für Lateinamerika. Er würde das Auslaufen eines Zyklus linker Regierungen symbolisieren, die gerade im größten Land des Kontinents letztendlich nicht in der Lage waren, die machtpolitischen Kräfteverhältnisse dauerhaft zu verändern und von der Wählerschaft als Motor des Fortschritts honoriert zu werden. Und zwar trotz aller sozialpolitischen Erfolge und trotz der internationalen Wirkung Lulas.

Nicht nur den konservativen Kräften würde damit Aufwind gegeben, sondern auch den Kritikern von Links, die mit dem Konsenskurs von Lula nie einverstanden waren und tiefergehende Strukturformen, auch des Eingriffs in die Besitzverhältnisse fordern. Aber ich glaube, dass es hierzu nicht kommen wird.