Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Indonesiens Präsident Joko Widodo ist letztes Jahr in diplomatischer Mission nach Kiew und Moskau gereist, um die Wiederaufnahme der Getreideexporte zu erreichen. Im November war er Gastgeber des G20-Gipfels. Welche Rolle will Indonesien in der Welt übernehmen?
Von diesem Besuch allein würde ich nicht allzu viel erwarten. Er war in erster Linie innenpolitisch motiviert. Sie haben die Getreideexporte angesprochen. Wir hatten große Probleme mit den Lebensmittel- und Energiepreisen. In Indonesien war es zu zahlreichen Protesten gekommen, weil die Regierung die Treibstoffsubventionen kürzen musste, und die Menschen fingen auch schon an, über den Anstieg der Lebensmittelpreise zu klagen. Das war eine der Folgen des Ukraine-Krieges, die wir zu spüren bekamen. Die Besuche dienten erstens dazu, dieses Problem zu lösen, und zweitens galt es den G20-Gipfel zu retten, denn damals drohten viele europäische Länder mit einem Boykott. Sie wollten nicht an dem Gipfel teilnehmen, wenn Putin dort erschienen oder Selenskyj nicht eingeladen worden wäre.
Indonesien hat derzeit den Vorsitz der ASEAN inne. Wie relevant ist die Organisation für die regionale Sicherheitsarchitektur im indopazifischen Raum? Bei der Konfliktlösung im Südchinesischen Meer oder beim Friedensplan für Myanmar sind keinerlei Fortschritte zu erkennen.
Offen gestanden, hat die ASEAN heute leider keine große Bedeutung mehr. Aber wir haben keine Alternativen. Vor ein oder zwei Jahrzehnten war die ASEAN noch die treibende Kraft für Dialog und Zusammenarbeit – zunächst in Südostasien, dann aber auch im gesamten Indopazifikraum. Heute spielt sie keine Rolle mehr. Einige Länder verlieren allmählich die Geduld mit der ASEAN, und deshalb entstehen inzwischen viele andere minilaterale Plattformen wie AUKUS oder QUAD. Vielleicht werden weitere hinzukommen. Die Gründung dieser neuen Plattformen ist Teil der Suche nach Alternativen. Gleichzeitig sorgen solche Plattformen in einigen Ländern der Region, weil sie sich ausgeschlossen fühlen, für großen Unmut. An der ASEAN gibt es auch in Indonesien Kritik. Viele kritisieren, Indonesien sei inzwischen zu mächtig für die ASEAN. Wir sollten einfach austreten und nach anderen Plattformen suchen, auf denen wir unsere Interessen vertreten können. Aber solange sich keine Alternative gefunden hat, die den aktuellen Herausforderungen gerecht wird, werden die Staaten weiterhin auf die ASEAN setzen – egal, ob sie relevant ist oder nicht.
Offen gestanden, hat die ASEAN heute leider keine große Bedeutung mehr.
Die ASEAN-Mitgliedstaaten sind äußerst heterogen, auch was die politischen Systeme betrifft. Eines der Grundprinzipien ist die Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Länder. Sehen Sie eine Möglichkeit, die Organisation zu reformieren? Sollte es vielleicht wie in der EU mehr Integration geben?
Ist die ASEAN reformbedürftig? Eindeutig ja. Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Eines der größten Probleme der ASEAN sind die Grundsätze, auf denen sie beruht. Die Nichteinmischung haben Sie schon erwähnt. Hinzu kommt, dass alle Entscheidungen im Konsens getroffen werden müssen. Das heißt: Alle zehn Mitgliedstaaten müssen zustimmen. Und dann sind da noch die hochgradig bürokratischen Entscheidungsprozesse. Das zu ändern, ist alles andere als einfach. Alle zehn Länder haben sich auf die ASEAN eingelassen, weil sie ein loser Zusammenschluss ist und sie keine Einmischung befürchten müssen. Sobald man versucht, den einen oder anderen Aspekt zu verändern, steigen vielleicht einige Länder aus. Das ist das Dilemma. Sollen die zehn Länder weiterhin kooperieren, im Dialog bleiben und die inzwischen nicht mehr relevante Struktur unverändert beibehalten, oder wagt man mehr Fortschritt und Reformen auf die Gefahr hin, dass manche Länder austreten?
Wie sehr beunruhigt Sie die Machtrivalität zwischen China und den USA in der Region? Bisher hat Indonesien sich stets geweigert, für eine Seite Partei zu ergreifen. Glauben Sie, dass Jakarta seine blockfreie Position auch in Zukunft beibehalten kann?
Wenn ich mir die Erfahrungen der Vergangenheit und die außenpolitischen Leitlinien Indonesiens vor Augen führe, werden wir uns wohl niemals offen für eine Seite entscheiden können. Das liegt nicht in der DNA des Landes. Die guten Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu China haben uns viele Vorteile gebracht, und wir möchten, dass das so bleibt. Außerdem hat es für Indonesien Vorteile, wenn die anderen südostasiatischen Länder die gleiche Strategie verfolgen und sich nicht auf eine Seite schlagen. Aber natürlich wird es immer schwieriger werden, diese Position durchzuhalten. In Zukunft könnte sich das allerdings ändern. Eine entscheidende Rolle spielt die Taiwan-Frage. Sollte in Taiwan etwas passieren, wäre dies der Moment, in dem nicht nur Indonesien, sondern die südostasiatischen Staaten insgesamt sich entscheiden müssen, auf wessen Seite sie stehen wollen.
Deutschland und die EU behaupten, dass sie dem indopazifischen Raum und Südostasien eine große strategische Bedeutung beimessen. Was erwarten Sie von den Europäern?
„Indopazifik“ ist in den vergangenen fünf bis zehn Jahren zum Schlagwort schlechthin geworden. Jeder will sich in der Region engagieren. Man hat den Eindruck, alle paar Monate erscheint ein neues Indopazifik-Papier, und dann wollen die Botschaften der Länder ein Seminar oder eine Konferenz abhalten und mit meinem Thinktank dazu zusammenarbeiten. Einerseits ist es ein gutes Zeichen, dass dem Indopazifikraum so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, denn das zeigt den massiven Bedeutungszuwachs der Region. Auf der anderen Seite wird es allmählich zu viel. Wenn Sie diese ganzen Papiere unter die Lupe nehmen, haben Sie den Eindruck, immer wieder dasselbe zu lesen. Mittlerweile schwirrt einem schon etwas der Kopf, wenn man versucht, zu verstehen, was diese Länder in der Region eigentlich erreichen wollen.
Die guten Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu China haben uns viele Vorteile gebracht.
Die USA zum Beispiel sind mit ihren Sicherheitsinteressen schon seit Langem im indopazifischen Raum präsent. Auch Japan ist hier seit langer Zeit aktiv. Es leistet Entwicklungszusammenarbeit sowie technische Hilfe und es unterstützt verschiedene Länder mit Ausbildungsangeboten. China kam etwas später dazu und investiert in die Infrastruktur. Es gibt also bereits Erfolgsmodelle, und andere Länder wollen diese jetzt offenbar nachahmen. Da frage ich mich: Warum soll man etwas kopieren wollen, was andere Länder schon erfolgreich umsetzen? Haben die neuen Akteure überhaupt die nötigen Voraussetzungen, um diese Länder abzulösen, die schon erfolgreich sind? Oder verfolgen sie Interessen und bringen Herangehensweisen mit, die so anders sind als die der anderen Länder, dass sie wirklich mit den Staaten in der Region zusammenarbeiten und versuchen können, den indopazifischen Raum als Region von Stabilität und Wohlstand zu gestalten?
Ich glaube nicht, dass sich viele europäische Länder hierüber genug Gedanken gemacht haben. Wenn man unbedingt die gleichen Themen bearbeiten will wie Länder, die schon vorher aktiv waren, wird das Ganze in gewisser Weise ineffektiv und überflüssig. Wenn ich diese Kritik äußere, höre ich von Leuten aus Ländern wie Deutschland oft: Dann sagen Sie doch, was Sie von uns wollen. Ich glaube, das ist nicht der richtige Ansatz. Wenn Sie uns nach unseren Wünschen fragen, können wir Ihnen eine Liste vorlegen. Gebt uns Geld. Wir wollen hier eine Brücke und dort einen Hafen bauen, wir brauchen Straßen. Aber so funktioniert das nicht. Deutschland sollte sich über seine Modalitäten und Interessen im Klaren sein. Warum sollten Sie sich in einer weit entfernten Region engagieren wollen, wenn Sie einen Konflikt direkt vor der eigenen Haustür haben? Es muss irgendein Interesse geben, das sie verfolgen wollen, und darum sollten Sie sich kümmern, statt sich darüber Gedanken zu machen, was die Länder in der Region brauchen.
Sie haben gerade von Interessen gesprochen. In Europa und besonders in Deutschland haben wir eine Debatte über eine wertebasierte Außenpolitik als Gegenmodell zu einer interessenbasierten Außenpolitik. Wie denken Sie darüber?
Zunächst einmal kann jedes Land seine eigene Außenpolitik bestimmen. Wenn Deutschland also vor allem eine wertebasierte Außenpolitik betreiben will, steht ihm das natürlich frei. Doch wenn man es mit anderen Ländern zu tun hat, die andere Positionen vertreten, kann es Probleme geben. Es kommt darauf an, welche Themen man angehen will. Es gibt Bereiche, in denen die Länder bereit sind, mit Partnern in wertebasierten Fragen zusammenzuarbeiten. Manche Themen sind aber auch einzig und allein interessenbasiert. Indonesien zum Beispiel braucht Investitionen in die Infrastruktur. Wie gesagt: Deutschland steht es frei, eine wertebasierte Außenpolitik zu betreiben, aber es sollte sich darauf einstellen, dass es Länder und Themen gibt, die man damit nicht erreicht.
Aus dem Englischen von Christine Hardung