Ihr Buch In Praise of Forgetting sorgt derzeit für Aufregung: Die New York Times nennt es „schmerzhaft relevant“, die New Republic „weise und unerbittlich“, die Sunday Times „beißend, eloquent und bewegend“. Grund der Aufregung: Sie fragen, ob es wirklich immer gut und richtig ist, sich der historischen Vergangenheit bewusst zu sein. Wie meinen Sie das?
Nun, ich hoffe zumindest, dass es das tut. Zum Teil ist das Buch als ein Werk zu verstehen, dessen Verfasser in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, vor allem aber in den 1990ern, aus Kriegsgebieten und von Flüchtlingskrisen berichtet hat. In dem Buch versuche ich, gegen zwei gängige Ansichten anzuargumentieren. Zum einen gegen die Vorstellung, "wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt , sie zu wiederholen". Dieser bekannte Ausspruch stammt von dem spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana. Zum anderen stelle ich die moderne Interpretation dieser Aussage infrage. Sie lautet: Es ist moralisch gut, sich zu erinnern, und unmoralisch zu vergessen. Diese Ansicht wird von Menschenrechtsorganisationen vertreten, von den Vereinten Nationen, von deren Generalsekretären der letzten Jahrzehnte und wohl auch von der Europäischen Union. Und auch die Werte, die der Kopenhagener Erklärung zugrunde liegen, spiegeln sie zumindest implizit wider.
Wie kann es unmoralisch sein, sich zu erinnern? Nicht nur im deutschen Kontext lässt diese Vorstellung einige Alarmglocken schrillen …
Wenn man sich den deutschen Kontext vor Augen führt, ist natürlich klar, warum mir hier einige aus den falschen Gründen beipflichten werden. Ich versuche aber nicht, die Sache auf den Kopf zu stellen, also zu sagen, dass es immer moralisch und gut ist, zu vergessen. Und analog dazu, dass es immer moralisch verwerflich wäre, sich zu erinnern. Ich verstehe die Sorge, die mein Ansatz auslöst – er kann leicht falsch interpretiert werden und klingt für einige wie die Aussagen, die wir von unangenehmen Zeitgenossen in vielen Teilen der Welt kennen. Ich spreche übrigens nicht nur von Deutschland, Argentinien ist auch ein gutes Beispiel hierfür. Viele, die sagen „Lasst uns vergessen“ meinen damit eigentlich: „Es war doch alles gar nicht so schlimm“. Das hat allerdings überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich sagen möchte.
Mir geht es nicht darum, Gräueltaten zu verharmlosen, sondern darum, dass wir uns immer auch in der Pflicht sehen sollten, die Rolle von Erinnerung zu hinterfragen. Ich behaupte, dass es nicht immer positiv ist, Geschehenes zu erinnern, und in jedem einzelnen Fall entschieden werden sollte, ob Erinnerung sinnvoll oder nachteilig ist. Ich denke, dass einige meiner Beispiele dafür sehr überzeugend sind. Erinnerung ist nicht immer hilfreich, sondern – ganz im Gegenteil – kann zum Fortbestand von Konflikten, Verbitterung und Spaltung beitragen. Offensichtliche Beispiele hierfür sind der israelisch-palästinensische Konflikt und der Balkankonflikt. Es gibt aber auch andere.
Lassen Sie uns auf die Alarmglocken zurückkommen. Elie Wiesel ist unter anderem bekannt für seine Warnung, dass der Feind den endgültigen Triumph davonträgt, wenn wir vergessen. Sie erwähnen ihn in Ihrem Buch. Warum halten Sie diese Aussage für so fragwürdig?
Ich möchte meiner Antwort auf diese Frage eine ziemlich düstere Anmerkung vorausschicken: Wenn wir darüber sprechen, etwas nie zu vergessen, ist das nicht ernst zu nehmen. Alles ist irgendwann vergessen. Ohne Ausnahme alles. Winston Churchill eignet sich hier gut als Beispiel. Er stand zweifelsohne hinter dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses und war ein Nationalist der alten Schule. Doch selbst aus seiner berühmten „Finest Hour“-Rede ist herauszuhören, dass er die Grenzen der Erinnerung ganz realistisch eingeschätzt hat. Als es so aussah, als würde Nazi-Deutschland den Krieg gewinnen und Churchill die Briten dazu aufrief, sich „ihrer Pflichten zu besinnen“, sagte er nicht, dass der Krieg nie vergessen sein würde. Er sagte „Falls das Britische Weltreich noch Tausend Jahre währt“. Churchill sagte „falls“, denn ihm war vollkommen klar, dass alles irgendwann in Vergessenheit gerät.
Wenn Elie Wiesel also sagt, wir dürfen nie vergessen, dann ist das Wunschdenken. Es handelt sich hier nicht um eine ernst zu nehmende Aussage, sondern um eine emotionale. Das Problem in dem Apell an das kollektive Gedächtnis liegt darin, dass hier Kategorien verwechselt werden. Wir erinnern uns nicht an die Schlacht von Gettysburg. Das tut niemand. Es gibt eine Version davon und die wird kontinuierlich neu geschrieben. Tun wir das als Einzelpersonen? Sicher. Aber das persönliche Gedächtnis ist eben nicht mehr als das. Das persönliche Erinnern ist Privatangelegenheit. Das kollektive Gedächtnis ist jedoch etwas anderes, wir reden hier über den gegenwärtigen gesellschaftlichen Konsens über die Vergangenheit. In vielen Fällen geht es beim kollektiven Gedächtnis darum, die Vergangenheit auf eine für die Gegenwart nützliche Weise zu interpretieren.
Geschichte wurde schon immer instrumentalisiert. Das ist doch kein neues Phänomen.
Ja, das Phänomen ist alles andere als neu. Auch das Konzept des kollektiven Gedächtnisses ist nichts Neues. Aber der Schwerpunkt hat sich verschoben: Früher wurde zumeist der Staat, das Land glorifiziert. Seit einiger Zeit konzentriert sich das kollektive Gedächtnis jedoch – zumindest in Westeuropa, Nordamerika und Australien – auf die Opfer.
Viele, die sagen „Lasst uns vergessen“ meinen damit eigentlich: „Es war doch alles gar nicht so schlimm“. Das hat allerdings überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich sagen möchte.
Und was soll daran falsch sein? Ist es nicht an der Zeit, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen? Wir sprechen über die Geschichte der Geschichte und über den Fokus der Geschichtsschreibung. Ist es da nicht positiv zu bewerten, wenn sich dieser Fokus jetzt zugunsten der Opfer verschiebt?
Arthur Schlesinger Jr. hat einmal gesagt, dass das Pendel der Geschichte und Politik in den Vereinigten Staaten immer wieder von links nach rechts schwingt. Das klingt für mich zwar deterministisch, doch ist diese Entwicklung grundfalsch? Nein. Ich finde daran aber auch nichts wirklich richtig. Wenn es um Glorifizierung geht, werde ich als Skeptiker nervös, ganz egal, wer da verherrlicht wird. Meiner Meinung nach sollte niemand verklärt werden. Nicht der Nationalstaat und nicht die Opfer von Unrecht und Gewalt. Ob ich verstehe, dass dieser Trend einem Sinn für Gerechtigkeit entspringt und ein Ausdruck für ein entsprechendes Bewusstsein ist? Ja, natürlich, aber das ändert nichts daran, dass diese Opferverklärung bei mir genauso ein Unwohlsein verursacht wie es die Glorifizierung des Nationalstaats getan hat.
Lassen Sie uns zum Konzept des Vergessens zurückkommen. Sie sagen, dass es Fälle gibt, in denen ein „Abgesang auf das Erinnern und ein Loblied auf das Vergessen“ angebracht sind. Was wären denn Beispiele?
In den frühen 1990er-Jahren war ich als Korrespondent auf dem Balkan und habe einen großen Teil der Belagerung von Sarajevo miterlebt. In meinem Buch erzähle ich von einer Begegnung mit dem Politiker Vuk Draskovic, einem serbischen Nationalisten mit einer sehr widersprüchlichen Persönlichkeit. Als ich sein Büro in Belgrad verließ und mich auf den Weg zum Aufzug machte, gab mir einer seiner Assistenten ein zusammengefaltetes Stück Papier. Ich öffnete es im Taxi auf dem Weg zu meinem Hotel und da stand nichts anderes als „1453“. Mir war sofort klar, worauf er anspielte: das Verständnis der Rolle Serbiens als Verteidiger des Westens, der die muslimischen Horden aufhält, um eine Wiederholung der Eroberung von Konstantinopel zu verhindern. Mich daran zu erinnern entsprang keinerlei historischer Verantwortung. Hier wurde schlicht Geschichte auf unverantwortliche Weise metaphorisch missbraucht. Ich denke daher, dass es uns gut tun würde, in Bezug auf den Balkan einiges eben ganz bewusst nicht mehr zu erinnern…
Ein anderes offensichtliches Beispiel ist der Nahe Osten. Ich ordne mich keiner der Konfliktparteien zu und habe sowohl am Vorgehen der Israelis als auch an dem der Palästinenser einiges auszusetzen. Es ist allerdings offensichtlich, wie Erinnerung hier als Waffe eingesetzt wird. Viele Jahre lang haben die Soldaten der israelischen Streitkräfte ihren Schwur auf der Festung Masada geleistet, also an dem Ort, an dem die Zeloten 70 vor Christus gegen die römische Besatzung gekämpft und letzten Endes sich selbst und ihre Familien getötet haben, um nicht lebend in die Hände der Römer zu fallen.
Nun, es ist nichts falsch daran, den Abschluss der militärischen Grundausbildung mit einer Zeremonie zu feiern. Wird dieses Zeremoniell allerdings auf Masada abgehalten, wird eine Version der Vergangenheit heraufbeschworen, die als apokalyptisch bezeichnet werden kann. Man sieht sich als Nachfolger dieser Tradition absoluten Widerstands und macht sich das apokalyptische Ende der Belagerung zu eigen. Und das finde ich problematisch. Mein alter Freund Leon Wieseltier zitiert gerne einen amerikanischen Politiker, der für seinen Ausspruch bekannt ist, dass man mit Poesie um etwas werben kann, aber in Prosa regieren muss. Und bei dieser Methodisierung der Geschichte wird versucht, mit Poesie zu regieren. Das ist das Problem. Das funktioniert meistens nicht.
Aber ich will beiden Seiten gerecht werden. Die Araber vergleichen Israel gerne mit dem christlichen Königreich Jerusalem, das von 1099 bis 1187 vor Christus bestand. Auch hier wird die Geschichte missbraucht, sie wird dazu genutzt, Arabern einzureden, dass sie sich nicht mit Israel auseinandersetzen müssen, da Israel sowieso dem Untergang geweiht ist, genau wie das Königreich damals. Geschichte wird hier zu Propagandazwecken eingesetzt. Sie wird zu Poesie verklärt, wo Prosa angebracht wäre. Das ist das Letzte, was wir brauchen.
Doch selbst wenn wir es wollten, wie können wir vergessen? Sie erwähnen in Ihrem Buch das Edikt von Nantes, mit dem Heinrich IV vergeblich versuchte, die Erinnerung zu unterdrücken und das Vergessen vergangener Gewalt sozusagen als Staatsraison vorzuschreiben ...
Natürlich kann das gelingen! Heinrich IV wurde getötet und seinem Versuch damit ein Ende gesetzt. Das heißt aber nicht, dass das Projekt zum Scheitern verurteilt war. Es ist nicht unmöglich, zu vergessen. Man muss sich aktiv darum bemühen, das ist beim Erinnern aber auch nicht anders.
Auch weil das persönliche Gedächtnis etwas anderes ist als das kollektive?
Ja, und genau deshalb wehre ich mich gegen die Gleichsetzung des persönlichen Erinnerns mit dem kollektiven Gedächtnis. Der Einzelne erinnert sich nicht an die Schlacht bei Tannenberg, ihm wird eine Version davon nahegebracht. Das Bildungssystem entscheidet, dass es sich hier um etwas Erinnerungswürdiges handelt. Erinnerung wird somit heraufbeschworen. Persönlichen Erinnerungen kann man nicht entkommen. Das kollektive Gedächtnis hingegen wird durch Bildung, durch die Medien, durch Kultur geschaffen. Warum sollte es also nicht möglich sein, zu versuchen, bestimmte Dinge zu vergessen?
Das kollektive Gedächtnis wird durch Bildung, durch die Medien, durch Kultur geschaffen. Warum sollte es also nicht möglich sein, zu versuchen, bestimmte Dinge zu vergessen?
Es gibt hier jedoch einen entscheidenden Unterschied, über den wir uns im Klaren sein müssen. An manche Ereignisse erinnern wir uns, weil wir sie selbst erlebt haben, oder zumindest, weil andere Menschen, die noch unter uns sind, sie persönlich erlebt haben. Doch irgendwann werden diese Menschen nicht mehr da sein. Wir alle sind irgendwann nicht mehr da. Daher stellt sich die Frage, ob wir diese Erinnerungen wachhalten werden. Leon Wieseltier hat 1993, als das Holocaust Museum in Washington DC eröffnet wurde, einen brillanten Essay darüber geschrieben. Er hat die Frage aufgeworfen, was passieren wird, wenn keiner der Menschen mehr am Leben ist, die im 2. Weltkrieg in Lagern interniert waren. Der Essay trägt treffenderweise den Titel „After Memory“. Dann werden wir uns entscheiden müssen, wie wir uns erinnern oder aber wie wir vergessen möchten.
Aktuell streiten Deutschland und die Türkei über Erinnerung, nachdem Deutschland den Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen benannt und anerkannt hat.
Ja, das habe ich verfolgt.
Ist nicht grade das Vorgehen der Türkei ein Beispiel dafür, welchen Schaden es anrichten kann, wenn versucht wird, historische Fakten zu unterdrücken? Macht einen die Wahrheit nicht frei? So steht es zumindest in der Bibel.
Ich glaube genauso wenig, dass die Wahrheit frei macht, wie ich glaube, dass Geschichte Weiterentwicklung bedeutet. Die Deutschen haben in Bezug auf den Genozid an den Armeniern das getan, was bereits eine Reihe anderer europäischer Länder vor ihnen getan hat.
Ja, auch Frankreich hat den Völkermord anerkannt.
Genau, auch Frankreich. Aber wer sich einbildet, dass alles gut werden würde, wenn die Türkei den Völkermord an den Armeniern nur einräumen würde, zäumt das Pferd von hinten auf, wie man so schön sagt. Eine wirklich demokratische Türkei würde den Genozid wahrscheinlich als historische Tatsache akzeptieren, davon sind wir allerdings Lichtjahre entfernt. Ein solches Eingeständnis wird den Demokratisierungsprozess nicht einläuten, sondern eine Folge dieses Prozesses sein.
Das ist eine ziemlich grundsätzliche Kritik. Sie würden der Aussage, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden zusammengehören und voneinander abhängen, also nicht zustimmen?
Nun, das ist letztlich meine wesentliche Kritik an der Menschenrechtsbewegung. Sie verfolgt eine Ideologie, gibt aber vor, über Ideologien zu stehen. Man kann hier von einer guten Ideologie sprechen, das ist also keine Beleidigung. Doch indem sie versucht, den Anschein zu erwecken, irgendwie über der Politik und über Ideologien zu stehen, strapaziert die Menschenrechtsbewegung die Geduld zumindest all derjenigen, die historisch und politisch nicht ganz unbedarft sind. Natürlich behauptet die Menschenrechtsbewegung, dass sie lediglich versucht, internationales Recht durchzusetzen. Doch Gesetze sind ein Artefakt der Politik und das ist etwas, was den Deutschen sicher stärker bewusst ist als vielen anderen.
Und aus diesem Grund sind für Sie Frieden und Gerechtigkeit zwei komplett voneinander unabhängige Dinge?
Menschenrechtler sagen: Ohne Gerechtigkeit ist Frieden nicht möglich. Doch warum sollte das so sein? Es gibt viele Beispiele für Frieden ohne Gerechtigkeit. Bosnien ist ein Beispiel hierfür. Das Abkommen von Dayton war extrem ungerecht. Es hat die Aggressoren belohnt, sowohl die kroatischen, wie auch die serbischen, und die Opfer bestraft. Aber in Bosnien herrscht Frieden. Ich habe die Belagerung von Sarajevo selbst miterlebt, für mich ist Frieden keine Metapher. Ich habe mitgeholfen, die Straßen freizuräumen, die voller Körperteile waren, ich weiß, wovon ich rede. Die Tatsache, dass es heute möglich ist, zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Stadt herumzulaufen, ohne dass man dabei zu Schaden kommt – das ist Frieden.
Letztlich sagen Sie, dass wir uns von der Vorstellung von Frieden als der Idee des Guten, Wahren und Schönen per se befreien sollten? Und dass in manchen Fällen die Ungerechtigkeit, die das Vergessen darstellt, ein Preis ist, den es sich zu zahlen lohnt?
Ja. Wenn Menschenrechtler über Frieden sprechen, dann sprechen Sie über eine platonische Friedensvorstellung. Ich bin aber kein Anhänger von Plato. Es gibt eine andere Bewegung, den Skeptizismus in seiner anglo-schottischen Ausprägung, dem fühle ich mich zugehörig. Isaiah Berlin hat die philosophischen Ursprünge dieser Tradition mit seiner Theorie der Inkommensurabilität wohl am besten ausgedrückt. Das bedeutet nichts anderes, als dass bestimmte Werte untereinander nicht kompatibel bzw. inkommensurabel sind. Tatsächlich sind sie nicht nur inkommensurabel, sondern können auch in direktem Widerspruch zueinander stehen. Manchmal ist es notwendig, zu vergessen. Die Betonung liegt hier auf „manchmal“. Es gibt Fälle, in denen es hilfreich ist, sich zu erinnern, und Fälle, in denen mehr Erinnerung angebracht wäre. Südafrika ist ein gutes Beispiel für ein Land, dem es gut tun würde, dem Erinnern eine größere Bedeutung beizumessen. Dies gilt in jedem Fall für die weiße Bevölkerung. Bischof Tutu hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission als ein Geschenk der schwarzen Südafrikaner an die weißen Südafrikaner bezeichnet, das diese nicht angenommen haben. Ich glaube, die meisten Weißen würden, wenn man sie fragen würde, so etwas sagen wie: „Das war damals eben so und dann hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre Arbeit gemacht. Warum müssen wir uns ständig mit der Vergangenheit beschäftigen, warum können wir nicht nach vorne schauen?“ Im Falle Südafrikas, wo auch heute noch eine ganz grundlegende wirtschaftliche Ungleichheit herrscht, die in manchen Bereichen noch ausgeprägter ist als während der Apartheid, wäre es wohl besser, wenn man dem Erinnern einen größeren Stellenwert einräumen würde.
Sie sagen auch, dass das Vergessen nicht ewig währen kann. Gibt es eine Zeit für das Vergessen und dann wieder eine Zeit, sich zu erinnern? Sowohl in Deutschland als auch in Israel waren die ersten Jahre nach dem Holocaust von Schweigen geprägt, das durch die Scham der Täter und die Scham der Opfer bedingt war.
Genau so ist es. Aber lassen Sie mich ein weniger dramatisches Beispiel anführen. In Spanien wurde praktisch ein Pakt des Vergessens geschlossen, als die Rechte und die Linke nach Francos Tod eine Übereinkunft trafen. Sie einigten sich darauf, zu vergessen. Und heute wird Spaniens Vergangenheit wieder zum Thema im Land und man kann vielleicht sagen, dass dieser Pakt – der lange Zeit nützlich war – gebrochen wurde. Es ist wohl an der Zeit, die Erinnerung wieder zuzulassen. Ein weiteres gutes Beispiel ist die Anklage gegen Augusto Pinochet. Wäre sie unmittelbar nach dem Rücktritt des Diktators erhoben worden, hätte es wahrscheinlich einen zweiten Militärcoup gegeben. Ein paar Jahre später jedoch war eine Anklageerhebung möglich.
Meine Frage ist – und hier komme ich auf Leon Wieseltiers Essay zum Holocaust Museum zurück: Welche Bedeutung räumen wir all dem in Deutschland und in Israel in 10 Jahren ein, in 20 Jahren, in 30 Jahren? Tony Judt schreibt über Kinder, junge Menschen aus Deutschland, aus Europa, die Auschwitz besuchen und sich nicht dafür interessieren. Ihre Lehrer haben Probleme damit, ihnen klarzumachen, dass es sich hier um etwas wirklich Wichtiges handelt. Sprechen wir hier also über etwas Zeitloses und wenn das nicht so ist, wenn es eine Frist gibt, wann läuft sie ab? In 100 Jahren, in 1000 Jahren? Nehmen wir die Flüchtlinge, etwa eine Million, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind. Können die Bildungsbehörden in 100 Jahren davon ausgehen, dass die Enkel der heutigen Einwanderer, denen sie den Holocaust nahebringen möchten, dieselbe Einstellung dazu haben wie die Deutschen heute?
Vor dieser Herausforderung stehen alle Einwanderungsländer. Sie könnten Justin Trudeau, dem Premierminister Kanadas, dieselbe Frage stellen. Welche Haltung sollen neue Einwanderer aus China gegenüber der Art und Weise einnehmen, wie die Angehörigen der indigenen Völker in Kanada behandelt wurden?
Ja, die Entwicklung ist hier aber nicht besonders positiv. Ich beobachte sehr genau, was in Kanada vor sich geht, und ich mag Justin Trudeau. Heutzutage ist das alles jedoch ziemlich komplex. Die Menschen migrieren nicht einfach, sie bleiben in Kontakt mit ihrer Heimat. Trudeau versucht, einen offensiven Umgang mit der nationalen Schande durchzusetzen und das ist ehrenwert. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie effektiv es ist. Würde mich die Geschichte des nördlichen Teils Quebecs in den 1950ern (vom 17., 18. und 19. Jahrhundert gar nicht zu sprechen) wirklich packen, wenn ich von Fujian nach Vancouver eingewandert wäre und noch mit meiner Heimat verbunden wäre? Ich bin da nicht sehr optimistisch.
Glauben Sie, dass Vergebung ohne Vergessen überhaupt möglich ist?
Ein Christ würde diese Fragen wohl bejahen. Die Vergebung ist schließlich ein zentrales Element des christlichen Glaubens, nicht wahr? Mich beeindruckt am christlichen Glauben vor allem, dass er so kontraintuitiv ist. Man hält auch die andere Wange hin. Das ist zutiefst moralisch. Einzelne können im metaphorischen Sinn Heilige sein. Sie sind vermutlich in der Lage, zu vergeben. Doch könnte ich vergeben, wenn mein Bruder in Srebrenica getötet oder von Polizisten in Zeiten der Apartheid zu Tode gefoltert worden wäre? Ich glaube nicht. Um ehrlich zu sein, ich bin der Ansicht, dass es Dinge gibt, die man nicht vergeben kann. Es ist jedoch möglich, nach und nach Abstand zu Geschehenem zu gewinnen. Wir erleben schließlich alle Negatives, eine Scheidung, den Tod der Eltern ... Zuerst wird man komplett davon eingenommen, aber mit der Zeit, mit den Jahren, gewinnt man Abstand. Das heißt nicht, dass man weniger traurig ist, sondern einfach, dass man nicht dauernd daran denkt. Das ist wohl eine sehr menschliche Reaktion auf solche Vorfälle und natürlich läuft es nicht in jedem Fall so ab. Vergebung setzt wohl voraus, dass der Täter seine Tat eingestanden hat, dann ist Vergessen – oder zumindest eine Versöhnung – möglich. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika hat viel Wahrheit ans Licht gebracht. Sie hat aber oft nicht zu Versöhnung geführt. Und ich frage mich, ob das in solchen Kontexten nicht eher zu erwarten ist als Versöhnung. Wenn ich Kritik an meinem eigenen Buch üben sollte – um zu einem etwas merkwürdigen Gesprächsabschluss zu kommen –, dann würde ich einräumen, dass ich wohl nicht allzu viel von Versöhnung verstehe. Dazu fehlt mir vielleicht einfach der Glaube.
David Rieff: In Praise of Forgetting. Historical Memory and its Ironies. Yale University Press, 2016. 145 S.
1 Leserbriefe