Die Fragen stellte Alexander Isele.

Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel – die Krisen unserer Zeit hinterlassen Spuren. Radikalisiert sich die Gesellschaft?

Das kann man so generell nicht sagen. Nicht die gesamte Gesellschaft radikalisiert sich. Dennoch ist es durchaus besorgniserregend, dass der Anteil der deutschen Bevölkerung mit einer menschenfeindlichen, demokratieablehnenden oder gar autoritären Weltansicht signifikant zugenommen hat, wie die neue Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Darin heißt es aber auch, dass zwei Drittel der Gesellschaft einer offenen und demokratischen Gesellschaft zugewandt seien. Der englische Philosoph Edmund Burke soll gesagt haben: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!“ Nur wenn diejenigen, die die Demokratie befürworten, die unsere aufgeklärte, vielfältige, inklusive Gesellschaft in ihrer Diversität und ihrer von Respekt und Toleranz geprägten Form des Zusammenlebens verteidigen wollen, nichts tun und passiv bleiben, nur dann gewinnt der zerstörerische Charakter, den wir zum Teil in den Ergebnissen dieser Studie sehen.

Ich verweise hier gern auf Israel. In Israel sitzen Rechtsextreme in der Regierung, versuchen das Land unter ihre Prärogative zu zwingen. Jedes Wochenende bringt die demokratische Gesellschaft Israels hunderttausende Menschen auf die Straße, was nach meinem Eindruck dazu führen wird, dass die extreme Rechte sich in Israel nicht durchsetzen wird. Ich würde mir wünschen, es gäbe mehr europäische Länder – auch Deutschland – in denen sich die breite Masse daran ein Beispiel nimmt. Wobei es durchaus schon gelungen ist, hunderttausende Menschen zu mobilisieren, um gegen eine Spaltung der Gesellschaft einzutreten, etwa bei der Unteilbar-Demonstration 2018 in Berlin.

Seither sind nicht nur, aber auch in Deutschland rechtspopulistische Parteien weiter erstarkt. Ist das Glas in Deutschland halb voll oder halb leer?

Das Glas ist mehr als halb voll, was die Verteidigung und den Schutz der Demokratie angeht. Die Studie zeigt eine Zunahme von extremen Einstellungen und teilweise eine Erosion der zivilen bürgerlichen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft. Aber es ist nicht so, als hätten die Extremisten die Mehrheit in diesem Land. Man darf nicht übersehen: Wenn eine Partei wie die AfD in Umfragen 20 Prozent hat, dann hat sie 80 Prozent der Bevölkerung nicht auf ihrer Seite. Und genau darum geht es. Die Mehrheit von Leuten, die bereit ist, die Republik, die Demokratie, unsere Verfassung zu schützen, muss mobilisiert werden. Warum habe ich auf Israel verwiesen? Es reicht nicht, einmal im Jahr mit 100 000 Leuten in Berlin auf die Straße zu gehen. In Tel Aviv passiert das jedes Wochenende. Ich will das nicht auf Deutschland übertragen, weil bei uns auch die Situation nicht so dramatisch ist. Aber die Idee in Israel ist, dass die Verteidigung der Demokratie durch eigenes Engagement, durch eigene sichtbare und hörbare Aussagen zum gesellschaftlichen Alltag, zur gesellschaftlichen Normalität gehören. Das würde ich mir in Deutschland auch wünschen: Dass, egal wo ein Antisemit auftritt, egal wo ein Rechtsextremist rumschwadroniert, es immer und immer wieder Leute gibt, die offen und mutig widersprechen.

Dafür ist nicht nur die Zivilgesellschaft gefragt. Vergangene Woche fand in Thüringen mit der Zusammenarbeit von CDU, FDP und AfD ein Dammbruch statt, die gemeinsam die Senkung der Grunderwerbssteuer beschlossen haben. Ab wann wird es gefährlich für die Demokratie?

Das war kein Dammbruch, sondern eine Wiederholungstat. Ich erinnere an Thomas Kemmerich, der mit den Stimmen der Höcke-AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde – und der die Wahl angenommen hat. In Thüringen gibt es offensichtlich Kräfte in der CDU, die in die Richtung der AfD drängen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Zusammenarbeit mit einer Partei wie der AfD, die auf rassistischen, fremdenfeindlichen und anti-europäischen ideologischen Grundsätzen beharrt, für jede demokratische Partei tabu sein muss. Die Bundesebene der CDU ist jetzt gefordert, Klartext zu reden. Alle anderen Parteien, einschließlich der FDP, haben das bereits getan. Da hat Marie-AgnesStrack-Zimmermann ausnahmsweise mal etwas Richtiges gesagt, als sie ausgeschlossen hat, dass die FDP in Thüringen Unterstützung durch die Bundespartei bekommt, solange diese „den Kemmerich macht“. Ich würde mir vom CDU-Parteichef eine ähnlich deutliche Äußerung wünschen. Ich will noch mal daran erinnern, dass Annegret Kramp-Karrenbauer nicht zuletzt wegen der Thüringer CDU und der Frage der Zusammenarbeit mit der AfD ihre erste schwere Niederlage als Parteichefin eingefahren hat. Es ist also nichts Neues in Thüringen. Deshalb ist es umso besorgniserregender.

Menschen, die sich selbst als benachteiligt wahrnehmen, tendieren zu rechten und menschenfeindlichen politischen Einstellungen. Wie kann die Politik diesen Menschen mehr Wertschätzung vermitteln?

„Die Politik“ als solche gibt es nicht. Die Frage zielt darauf ab, was der Block von demokratischen Parteien tun kann, um den Menschen, die Angst haben, ausgegrenzt zu werden, oder die sich bereits ausgegrenzt fühlen, das Gefühl zu vermitteln, dass sie es nicht sind. Dazu muss ihre Lebenssituation stabilisiert und verbessert werden. Das ist eine klassische Aufgabe der Regierung. Deshalb hoffe ich, dass wir in diesem Land auf Landes-, Bundes- und kommunaler Ebene genügend Regierende haben, die den Leuten das Gefühl vermitteln und durch praktische Politik zeigen: Ihr seid abgesichert, wir schützen euch, wir holen euch aus eurer schwierigen Lage heraus. Da wünsche ich mir, dass die demokratischen Parteien sich beispielsweise dem Vorschlag des Bundeskanzlers anschließen, einen Deutschlandpakt der Demokraten zu gründen, der das Gefühl vermittelt, dass alle zusammenrücken und mitgenommen werden.

Die vielfachen Krisen, die zu Unsicherheit in der Bevölkerung führen, können von keinem Land allein gemeistert werden. Warum suchen trotzdem viele ihren Halt im Nationalen?

Weil nationalistische Parteien wie die AfD vortäuschen, dass die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit einfach ist: die Rückkehr zur Abschottung. In einer immer komplexeren Welt, klingt so eine einfache Antwort verlockend. Aber: Wenn man an den Bankrott der Lehman Brothers als Beginn der internationalen Finanzkrise denkt, an die in Europa massiv um sich greifende Immobilienkrise, den ganzen Spekulationskapitalismus der Nuller-Jahre, die Pandemie, jetzt den Krieg: Kein einziges dieser Probleme war und ist durch den einzelnen Nationalstaat zu lösen. Das gilt auch für die Klimapolitik, die internationale Sicherheitszusammenarbeit, die Kontrolle der Finanzmärkte oder die Regulierung der internationalen Plattformökonomie. Und trotzdem gewinnen die Propagandisten des Nationalstaats an Einfluss, die den Menschen erzählen, wir könnten das alleine viel besser. Das ist Blödsinn. Im 21. Jahrhundert wird Deutschland alleine, selbst als ökonomisch starkes Land, nicht mit China, den USA, Indien, Lateinamerika oder den aufsteigenden Staaten Asiens konkurrieren können. Auch nicht Frankreich, Polen oder Italien, und schon gar nicht Irland oder Zypern. Mehr denn je bedarf es der europäischen Zusammenarbeit.