Das Interview führte Anja Wehler-Schöck.
Vor 50 Jahren hat Willy Brandt für seine Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis erhalten. Inwieweit prägen seine Ansätze heute noch die sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik?
Die Außenpolitik der SPD gestaltet sich unverändert in der Tradition von Willy Brandts Friedenspolitik. In seiner politischen Vita hat Brandt viele Facetten von Außenpolitik durchlebt. In Berlin galt er vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA eher als ein „Kalter Krieger“ und ein Parteirechter. In seiner Kanzlerschaft war er ein Entspannungspolitiker, der in sein Kalkül aber auch das Kräftegleichgewicht miteinbezogen hat. Nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt war er der Wortführer der Friedensbewegung, um Aufrüstung zu verhindern. In seiner späten Zeit hat er mit seiner Partei etwas gehadert, als sich die SPD sehr deutlich auf eine Ablehnung von Militäreinsätzen festlegte. Man muss sich diese Bandbreite vor Augen halten.
Für die SPD gelten bis heute unveränderte Leitvorstellungen. Das ist erstens das stete Bemühen um Frieden und Abrüstung – ein Ziel, das aktueller ist denn je. Zweitens ist es das klare Bekenntnis zum Dialog, auch unter schwierigsten Bedingungen. Es ist geprägt von der Erkenntnis, dass auch kleine Schritte der Entspannung zum Ziel führen können. Drittens ist es die klare Einbettung der deutschen Außenpolitik in die Westbindung – der Schulterschluss mit der EU und der NATO, ohne Alleingänge. Viertens ist es der Gedanke der Konfliktprävention, eines umfassenden Ansatzes, der Entwicklung, Frieden und Sicherheit in der Einen Welt zusammendenkt. Diese Leitgedanken begleiten uns auch heute noch in der Regierung.
Die Entspannungspolitik Brandts war ausschließlich aufgrund der Einbettung in die NATO, in das westliche Bündnis und Wertesystem überhaupt möglich.
Wie kann miteinander in Einklang gebracht werden, dass sich Deutschland einerseits weltweit für Abrüstung engagieren möchte, die Bundeswehr aber andererseits als moderne Verteidigungsarmee auf dem aktuellen technologischen Stand sein muss?
Dieses Dilemma hat Willy Brandt auch in seiner eigenen Regierungszeit erlebt. Wichtig ist, dass die beiden Prozesse Hand in Hand gehen. Brandt hat immer deutlich gemacht, dass er hinter einer gut ausgerüsteten Bundeswehr steht. In seiner Regierungszeit haben wir über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär ausgegeben. Das ist keine Zielmarke, die wir heute anstreben sollten. Aber sie führt vor Augen, dass die Entspannungspolitik ausschließlich aufgrund der Einbettung in die NATO, in das westliche Bündnis und Wertesystem, überhaupt möglich war. Wir laufen heute nicht dem Zweiprozentziel hinterher. Entscheidend ist, dass unsere Bundeswehr gut ausgestattet ist und dass die Soldatinnen und Soldaten bestmöglich geschützt werden. Das bedeutet, dass Waffensysteme auch modernisiert werden müssen. Die SPD war nie eine rein pazifistische Partei. Sie war immer ein Ort, wo pazifistische Überzeugungen auch ihren Platz hatten. Die SPD war nie gegen die Landesverteidigung und sieht sich als Partner der Bundeswehr.
So wie zu Brandts Zeiten kann auch heute Abrüstung nie als deutscher Alleingang verstanden werden. Deutschland wird bei Abrüstungsbemühungen rund um Atomwaffen nur eine marginale Rolle spielen, weil die großen Arsenale bei Russland, den USA und zunehmend auch China liegen. Wir müssen vor allem im Rahmen der NATO darauf drängen, dass Abrüstung wieder ganz oben auf die Tagesordnung kommt. Da haben wir mit Biden tendenziell auch einen Verbündeten.
Unsere Verteidigungsanstrengungen müssen noch stärker eingebettet werden in europäische Partnerschaften und Kooperationen.
Mit Blick auf die NATO fordert der Koalitionsvertrag eine faire Lastenverteilung. In diesem Punkt hat es aus den USA immer wieder sehr deutliche Kritik an Deutschland gegeben. Was muss sich ändern?
Diese Debatte zieht sich durch die Geschichte der NATO. Die USA tragen eine besondere Last und Verantwortung, weil sie Nuklearmacht sind und entsprechend kostspielige Arsenale für das gesamte Bündnis vorhalten. Wir wollen und werden unseren Beitrag leisten. Olaf Scholz hat als Finanzminister die Verteidigungsausgaben deutlich erhöht. Unsere Verteidigungsanstrengungen müssen noch stärker eingebettet werden in europäische Partnerschaften und Kooperationen. Es macht wenig Sinn, dass jedes Land eigene Waffensysteme entwickelt – die europäische Rüstungsproduktion ist uns ein zentrales Anliegen. Wir müssen dafür sorgen, dass Europa selbst handlungsfähig ist, wenn es darauf ankommt. Die Amerikaner werden nicht bei allem selbstverständlich mitmachen, das wird immer deutlicher. Deshalb ist eine engere Abstimmung in Europa, insbesondere mit Frankreich, essentiell.
Das Ziel der strategischen Souveränität Europas hört sich derzeit noch eher nach einer Wunschvorstellung an. Wie muss sich Europa aufstellen, damit das Wirklichkeit wird?
Europäische Souveränität bedeutet Handlungsfähigkeit nach außen wie nach innen. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur militärische oder diplomatische Fähigkeiten, sondern auch neue Technologien, Industrie- und Handelspolitik genauso wie Migrationsfragen. Wir müssen hier als Europäer gemeinsam handeln und Instrumente entwickeln. Ein gutes Beispiel ist der Corona-Wiederaufbaufonds. Für mich ist es ein Ausdruck europäischer Souveränität, dass wir eine so gravierende Wirtschaftskrise solidarisch bewältigt haben und das, was auf nationaler Ebene möglich war, sinnvoll ergänzt haben. Es lohnt sich, an diesem Konzept der europäischen Souveränität auf breiter Basis weiter zu arbeiten, um die Handlungsfähigkeit der EU insgesamt zu stärken. Olaf Scholz hat das als klare Priorität definiert.
Die Systemfrage appelliert an unsere eigene Stärke, der Bevölkerung in Deutschland, in der EU zu beweisen, dass Wohlstand und Sicherheit mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren möglich sind.
Deutschland sieht sich auf der einen Seite einer wertebasierten Außenpolitik verpflichtet, auf der anderen Seite sind wir mit Systemrivalen wie China oder Russland wirtschaftlich eng vernetzt und können globale Herausforderungen wie die Klimakrise oder Pandemien nicht ohne sie angehen. Wo müssen Abstriche gemacht werden?
Im Koalitionsvertrag haben wir das als neue „Dreifaltigkeit“ von Systemrivalität, Wettbewerb und Kooperation zusammengefasst. Wir werden mit China Kooperation suchen, wo immer es möglich ist – auch das ist ein Element von Willy Brandts politischem Erbe. Wir müssen gleichzeitig anerkennen, dass es aus China eine Herausforderung gibt, die über technologischen Wettbewerb hinausgeht. Es geht darum, welches Regierungsmodell den Bürgerinnen und Bürgern Wohlstand, sozialen Zusammenhalt und Innovationskraft bereitstellen kann. Im Unterschied zur Sowjetunion im Kalten Krieg ist China in den vergangenen Jahren in der Lage gewesen, auf diesen Gebieten beträchtliche Fortschritte zu erzielen. Das ist in der Welt nicht unbeachtet geblieben. Und es lässt das autoritäre Regierungsmodell für manche attraktiv erscheinen, teilweise auch in Europa.
Die Systemfrage ist daher eine, die sich vor allem an uns selbst richtet. Sie appelliert an unsere eigene Stärke, der Bevölkerung in Deutschland, in der EU zu beweisen, dass Wohlstand und Sicherheit mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren möglich sind und dass man nicht die vermeintliche Schlagkraft von Diktaturen braucht, um voranzukommen. Wir können durch eigenes Tun weit mehr überzeugen als durch eine Aufrüstungsspirale. Es war richtig, dass wir die Fregatte ins Südchinesische Meer geschickt haben, und es ist wichtig, dass wir weiterhin darauf dringen, dass sich alle, auch China, an internationales Recht halten. Aber selbst mit gutem Beispiel voranzugehen ist meist effektiver, als andere belehren zu wollen.
Wir können durch eigenes Tun weit mehr überzeugen als durch eine Aufrüstungsspirale.
Russland hat an der Grenze zur Ukraine in großem Umfang Truppen aufgefahren. Welche Schritte sollte Deutschland mit Blick auf eine mögliche Eskalation unternehmen?
Wir haben gegenüber Russland zusammen mit unseren Partnern in der NATO und in der EU deutlich gemacht, dass ein Angriff auf die Ukraine schwerwiegende Reaktionen nach sich ziehen würde. Bereits im Sommer hat es eine Absprache zwischen Deutschland und den USA gegeben, dass, falls Russland Energie als politische Waffe einsetzen oder anderweitig Aggression ausüben sollte, neue Sanktionen verhängt werden. Die russische Führung weiß, dass sie mit Konsequenzen rechnen muss und sich damit noch mehr ins Abseits manövrieren würde.
Ich hoffe, dass es zu einer Deeskalation der Situation kommt und wir zur Diplomatie zurückkehren. Das Normandie-Format ist dafür nach wie vor der richtige Rahmen. Deutschland muss sich als einer der vier Beteiligten massiv dafür einsetzen, dass es ein neues Treffen gibt. Natürlich müssen wir das alles vor dem Hintergrund der letzten 30 Jahre betrachten, in denen sich Russland und der Westen immer weiter voneinander entfremdet haben.
Was konventionelle Waffensysteme in Europa betrifft, haben wir kein vernünftiges Nachfolgekonstrukt zum KSE-Vertrag gefunden, der die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa unter den Bedingungen des Kalten Krieges definiert hatte. Die Bedrohung, die Russland für seine Nachbarn darstellt, hat auch damit zu tun, dass wir keine klaren Regeln dafür haben, wie konventionelle Streitkräfte in Europa begrenzt werden. Die russischen Angriffe auf die Ukraine und Georgien haben die europäische Friedensordnung, wie wir sie nach 1989 vereinbart haben, schwer beschädigt. Deshalb müssen wir einerseits klare Kante gegenüber russischen Manövern zeigen und uns andererseits an die Arbeit an den Regelungen zur Rüstungskontrolle machen.
Letzteres geht nur, indem wir versuchen, mit Russland darüber ins Gespräch zu kommen. Die letzten Jahre haben allerdings gezeigt, dass der Dialog mit Russland zwar unverändert notwendig ist, aber auch wenig bringt. Es ist eine bittere Erfahrung der vielen Begegnungen, dass Russland weiterhin die Regeln bricht und wir in keiner der Konfliktfragen so richtig vorangekommen sind.
Wir müssen einerseits eine klare Kante gegenüber russischen Manövern zeigen und uns andererseits an die Arbeit an den Regelungen zur Rüstungskontrolle machen.
Die USA üben gerade wieder verstärkt Druck aus auf Deutschland mit Blick auf Nord Stream 2. Ist das Projekt zum Scheitern verurteilt?
Nein. Die Pipeline ist gebaut. Es sind lediglich noch Rechtsfragen, die zu klären sind. Ich halte nichts davon, die Härte gegenüber Russland an einer Pipeline festzumachen, die noch nicht mal in Betrieb ist. Die Grundfrage, die sich stellt, die die Alliierten gemeinsam besprechen müssen, ist: Sind wir bereit, Energie als Sanktionsinstrument gegen Russland einzusetzen oder nicht? Das würde dann US-Ölimporte aus Russland genauso betreffen wie Gasimporte europäischer Staaten. Sich nur Nord Stream 2 herauszupicken ist unlauter.
Wenn man Russland tatsächlich finanziell schädigen wollte, dann müsste man an die Öl- und Gasexporte ran und nicht eine Pipeline blockieren, die noch gar nicht in Betrieb ist. Ich habe Zweifel, dass unsere Verbündeten bereit sind, in dieser Breite den Energiesektor zu sanktionieren, weil es wechselseitige Abhängigkeiten gibt. Und deshalb liegt die Bundesregierung richtig, wenn sie darauf besteht, dass es Sanktionen gibt, wenn Russland sich aggressiv verhält, aber nicht notwendigerweise im Energiesektor. Leider ist Nord Stream 2 in den vergangenen Jahren – auch aufgrund von Versäumnissen auf deutscher Seite – zu einer Symboldebatte geworden. Wichtig ist auch die Geschlossenheit des Westens gegenüber Russland. Bei den bisherigen Sanktionen haben wir das – zur Überraschung von Putin – hinbekommen.