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Die Fragen stellte das Team des IPG-Journals.
Argentinien hat nach Diego Maradonas Tod eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Nun war er vermutlich der größte Fußballer aller Zeiten. Doch bei allem Respekt vor Maradonas sportlichen Leistungen - ist das nicht etwas übertrieben? Was verkörpert Maradona für die argentinische Gesellschaft?
Ich halte das nicht für übertrieben, auch wenn ich verstehe, dass es manchem so scheinen mag. Eine dreitägige Staatstrauer gab es auch für die ehemaligen Präsidenten Raúl Alfonsín und Néstor Kirchner. Wir Argentinier sind zudem für Übertreibungen bekannt, und viele von uns stört das gar nicht. Natürlich trauern wir um den größten Fußballer aller Zeiten, aber das ist nicht alles. Die Identifikation mit ihm basiert auf dem „Fußballer Maradona“, geht aber weit über seine sportlichen Leistungen hinaus. Seine Respektlosigkeit, die Glücksgefühle, die er uns bescherte, aber auch seine Niederlagen und Abstürze sorgen bei vielen für dieses „göttliche“ Bild des „maßlos Menschlichen“. Wir haben ihn als „Gott“ bezeichnet, weil er mit seinem Übermaß an zutiefst menschlichen Eigenschaften unsere Herzen bewegte.
Zu Zehntausenden verabschiedeten sich die Fans von ihrem Idol vor dem im Präsidentenpalast aufgebahrten Sarg – dicht gedrängt und zu großen Teilen ohne Maske. Ist der Abschied von Maradona wichtiger als der Kampf gegen Corona?
Meine Antwort mag problematisch erscheinen, aber meiner Auffassung nach handelt es sich um zwei unterschiedliche Dinge. Viele Menschen haben in Argentinien Angehörige durch das Virus verloren, und wir alle haben Freunde, die von der Pandemie betroffen sind. Diese Pandemie betrifft uns auf nationaler wie auf persönlicher Ebene. Aber zum einen wurden in jüngster Zeit die Quarantänemaßnahmen gelockert, wenn natürlich auch niemand dabei an solche Ansammlungen von Menschen gedacht hat. Aber die Menschen versammeln sich spontan. Sie zeigen eine Liebe und Hingabe für Diego, die über alles hinausgeht. Zweifellos verweist der Abschied von Maradona das Virus auf den zweiten Platz. Der Soziologe Pablo Semán schrieb in einem Text, dass Maradona „das Bild des Kampfes vermittelt, den fast jeder von uns irgendwann kämpfen muss: etwas zu schaffen, das vom Tod nicht berührt werden kann“. Im Angesicht des Todes ist der Abschied von demjenigen, der uns das Glück – und das Leben – geschenkt hat, ein Risiko, das wir eingehen.
Leider uferte die Situation aufgrund der Polizeigewalt aus und das, was ein Fest hätte sein sollen, wurde eingetrübt. Die Repression der Polizei vor dem Regierungsgebäude hat den Abschied beschmutzt.
Argentinien ist durch die Corona-Krise und das wirtschaftliche Desaster stark gebeutelt. Ist der Tod Maradonas ein Anlass, der die Gesellschaft zusammenbringt, oder verstärkt er eher das Gefühl der Misere?
Ich glaube nicht, dass Maradonas Tod einen Einfluss auf die Polarisierung in unserem Land hat. Doch auf den öffentlichen Plätzen, rund um das Regierungsgebäude, in dem Maradona aufgebahrt war, präsentierte sich die Vielfalt Argentiniens: Arme, Reiche, Mittelschicht, linke und rechte Wählerinnen und Wähler; Christen, Juden, Atheisten, Agnostiker.
Ganz klar gibt es auch Teile der Gesellschaft, die Maradona und viele der Dinge, für die er stand, verachten. Sie reiten auf seinen Drogenproblemen oder auf seinem angeblichen „Mangel an Vorbildlichkeit“ herum. Dies ist eine Minderheit, die den Schmerz anderer verspottet, den Schmerz von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern. Es gibt einen populären Spruch: „Es ist mir egal, was Maradona aus seinem Leben gemacht hat, mir ist wichtig, was er aus meinem gemacht hat“.
Maradona suchte die Nähe zu den großen Linken Lateinamerikas wie Hugo Chávez und Fidel Castro. Welche Rolle spielte Politik für ihn und er für die Politik?
Maradona besaß die Fähigkeit, mit dem Volk zu fühlen. Es geht um diesen Begriff von „Gott“, den wir mit ihm verbinden: er, der alle und jeden einzelnen glücklich macht, der die Armen und Leidenden versteht. Das hat nicht immer (aber doch manchmal) eine direkte politische Komponente. Diego hat sich verbrüdert mit Fidel, mit Chávez und Evo, aber auch mit Menem, dem neoliberalen argentinischen Präsidenten in den 1990ern. Menem war extrem populär, er wurde zumindest teilweise auch von denen gewählt, die am stärksten unter seiner Politik litten.
In einem der bewegendsten Videos, die man dieser Tage sehen konnte, stellt ein behinderter Junge auf Krücken aus den Armenvierteln einige Kerzen vor einem improvisierten Heiligenschrein auf. Zu dem Journalisten, der ihn dabei filmt, sagt er: „Weißt Du, wie glücklich er uns Arme gemacht hat? Manchmal hatte ich nichts zu essen, aber wenn ich ihn im Fernsehen sah, machte er mich glücklich.“ Das Glück dieses einfachen Jungen hat eine größere Dimension als wir sie mit der Politik erreichen können. Er spricht nicht von Fidel oder Menem, sondern von „IHM“, Maradona, in all seinen Aspekten, der ihn glücklich gemacht hat.
Maradona hat eine fundamentale Überzeugung nie aufgegeben (die politisch ist, aber nicht unbedingt parteigebunden): die Armen zu verteidigen, diejenigen zu kritisieren, die sie beleidigen, sich als Teil der Sorgen, Schmerzen und Freuden des Volkes im weitesten Sinne zu fühlen.
Jorge Valdano, Mannschaftskamerad Maradonas in der argentinischen Weltmeisterauswahl von 1986, fasst einen Teil dieser Liebe des Volkes zu Maradona so zusammen: „Er war ein Mann, der aufgrund seines Genies schon von Jugend an keine Grenzen mehr kannte und der aufgrund seiner Herkunft mit einem stolzen Klassenbewusstsein groß wurde. Dadurch, und weil er für so viele stand, haben die Armen gegen die Reichen gewonnen. Die bedingungslose Ergebenheit, die er bei den Armen genoss, war proportional zum Misstrauen, das die Reichen ihm entgegenbrachten. Die Reichen hassten es zu verlieren. Aber selbst seine schlimmsten Feinde mussten angesichts seines außergewöhnlichen Fußballtalents den Hut ziehen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.“
Aus dem Spanischen von Claudia Detsch und Sabine Dörfler