Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Nach wochenlangen Debatten verzichtet Joe Biden auf die erneute Kandidatur für die US-Präsidentschaft. Eine Entscheidung, die Respekt verdient hat oder eher eine zu späte Einsicht des Präsidenten?
Respekt hätte die Entscheidung verdient gehabt, wenn er sie vor einem Jahr – oder noch besser vor zwei Jahren – getroffen hätte. Dann hätten die Demokraten nämlich noch die Möglichkeit gehabt, sich unter Einbeziehung der eigenen Wähler, mit einer richtigen Vorwahl auf einen anderen Kandidaten einigen zu können. Stattdessen hat er mithilfe des Democratic National Committees Vorwahlen veranstalten lassen, in der es im Grunde genommen keinen offenen Wettbewerb gab. Teilweise sind die Delegierten Biden einfach zugeteilt worden, zum Beispiel in Florida, ohne dass es eine tatsächliche Vorwahl gegeben hätte. Es gab keine TV-Debatten. Gegenkandidaten wie Dean Philipps waren kaum im Fernsehen zu sehen. Man hat versucht, Biden irgendwie über die Ziellinie zu schleppen. Auch in dem man den Vorwahl-Kalender so strukturiert hat, dass die Bundesstaaten, in denen er gut dasteht, als Erstes zur Abstimmung standen. Jetzt abzudanken, nachdem die ganze Welt sehen konnte, dass er dem Amt nicht mehr gewachsen ist, hat nicht wirklich Respekt verdient, sondern wirft eher die Frage auf, warum das nicht viel früher passiert ist. Insbesondere, wenn die Demokratie und der Sieg gegen Donald Trump ihm doch dem eigenen Bekunden nach so wichtig sind.
Joe Biden hat seine Vize-Präsidentin Kamala Harris als Nachfolgerin vorgeschlagen. Wie geeignet ist sie für das mächtigste Amt der Welt und wie hoch stehen ihre Chancen im November Donald Trump zu schlagen?
Ich halte sie für vollkommen ungeeignet. Die Demokraten haben sich jahrelang, vor allem durch die Kampagne von Hillary Clinton 2016, auf reiche Geldgeber und die großstädtische, professionelle Managerklasse gestützt. Das hat dazu geführt, dass Trump mit seinem teils billigen, teils aber auch vollkommen berechtigten Populismus die Arbeiterschaft viel stärker an sich gezogen hat. Joe Biden hat 2020 unter anderem deshalb gewonnen, weil er einige dieser Wähler zurückholen konnte. Auch als Präsident hat er glaubhaft gemacht, dass er sich wirklich Gedanken um die Sorgen der kleinen Leute macht. Er hat während seiner Amtszeit auch Gewerkschaften unterstützt und gestärkt. Diese zarte Wiederannäherung an die Arbeiterschaft könnte jetzt verloren gehen, wenn ihn jemand wie Kamala Harris ersetzt, die gerne blumige Reden schwingt und ihre Identität als schwarze Frau in den Mittelpunkt ihres Auftretens stellt. Das ist habituell genau der falsche Ansatz für einen Wahlkampf, in dem Donald Trump ja als Vizepräsidentschaftskandidaten J.D. Vance ausgewählt hat, der aus einer Arbeiterfamilie in den Appalachen kommt und die Sprache der Arbeiter spricht.
Die Präsidentschaftskampagne von Kamala Harris endete 2019 bereits vor der ersten Vorwahl. Auch als Vize-Präsidentin macht sie keinen glücklichen Eindruck. Ihre Umfragewerte sind schlecht. Warum glaubt das Parteiestablishment der Demokraten mit ihr gewinnen zu können?
Ich bin gar nicht restlos davon überzeugt, dass sie das überhaupt glauben. Vielleicht schiebt man sie auch nur vor, damit nicht andere, geeignetere Kandidaten bei einer Wahl verbraucht werden, in der jeder andere auch schlechte Karten hätte. Aber einen anderen Grund halte ich für wichtiger: Das Parteiestablishment der Demokraten mit den großen Geldgebern und wichtigen Figuren wie zum Beispiel den Clintons hat ein Interesse daran, dass die Partei „zentristisch“ ausgerichtet bleibt. Dort herrscht auch eine gewisse Vorliebe für Identitätspolitik, für Symbolpolitik. Allzu harsche Umverteilungsforderungen, wie sie zum Beispiel der sozialistische Senator Bernie Sanders – oder viele Parteilinke – erheben würden, sind da nicht so ganz willkommen. Mit Kamala Harris hat man eine angepasste und berechenbare Kandidatin, bei der man auf jeden Fall nicht befürchten muss, dass sie morgen die sozialistische Revolution ausruft.
Einflussreiche Demokraten wie die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sowie Mitglieder des Democratic National Committees, das den Parteitag der Demokraten im August organisiert, sprechen sich reihenweise für Harris aus. Schon jetzt soll sie sich die für die Nominierung notwendigen Delegierten-Stimmen gesichert haben. Haben andere potenzielle Kandidatinnen oder Kandidaten überhaupt noch eine Chance zum jetzigen Zeitpunkt?
Theoretisch ja, praktisch nein. Wer würde sich denn jetzt trauen, Harris herauszufordern, wenn sich bereits große Teile des Parteiestablishments hinter sie gestellt haben? Niemand möchte jetzt der Buhmann sein, der diese schöne neue Harmonie, die man sich jetzt zurechtgebogen hat, stört. Dass Bernie Sanders als einziger populärer Kandidat 2016 Hillary Clinton herausfordern und linke Politikprojekte verfolgen konnte, lag auch daran, dass er kein Mitglied der Demokraten ist und keine Großspenden annimmt. Zudem ist er in seinem Heimatstaat Vermont unumstritten. Eine Unabhängigkeit, die er sich über Jahrzehnte erarbeitet hat – Leute mit derart viel Rückgrat muss man bei den Demokraten mit der Lupe suchen – und findet sie wahrscheinlich dennoch nicht.
Die Entscheidung jetzt gegen sie in den Ring zu steigen, würde sich nicht gerade positiv auf die eigene Karriere auswirken.
Und Rückgrat bräuchte man, um sich Harris in den Weg zu stellen. Schließlich müsste man sie öffentlich kritisieren und die Partei würde so nicht als geschlossen erscheinen. Man würde als Spalter gelten und im Falle einer Wahlniederlage für weitere vier Jahre Trump verantwortlich gemacht werden. Diese Erfahrung hat Bernie Sanders nach 2016 auch schon gemacht. Jeder bei den Demokraten weiß: Die Entscheidung jetzt gegen sie in den Ring zu steigen, würde sich nicht gerade positiv auf die eigene Karriere auswirken.
Die Demokraten treten lautstark dafür ein, die Demokratie zu retten. Widerspricht die Wahl in einem nicht offenen Prozess nicht diesem Anspruch?
Ja, natürlich. Es bräuchte jetzt eine Auseinandersetzung um die personelle und inhaltliche Ausrichtung der Partei. Stattdessen kriegt man mit Kamala Harris eine Kandidatin quasi vorgesetzt und kann mehr oder minder nichts dagegen machen. Wer die Demokratie retten will, sollte erst mal bei sich selbst anfangen und demokratische Standards einhalten. Sonst wirkt die kolportierte Mission: Demokratierettung nicht besonders glaubwürdig.
Das DNC hat sich auch schon bei vergangenen Vorwahlen nicht besonders rühmlich verhalten und unter anderem 2016 Hillary Clinton Vorteile gegenüber Bernie Sanders verschafft. Es gibt einen ganz dringenden Reformbedarf bei den Demokraten. Die Partei ist im Kern vollkommen verrottet und wird den hohen moralischen Ansprüchen, die sie formuliert, nicht ansatzweise gerecht. Der notwendige Reformprozess ist natürlich kurz vor der Wahl kaum anstoßbar, künftig sollte es jedoch eine Parteiführung geben, die nicht hauptsächlich als verlängerter Arm des jeweiligen Präsidenten oder des Parteiestablishments agiert. Es muss einen offenen Wettbewerb geben – um Personalien und Ideen. Und der Demokraten-nahe Medienkosmos – vor allem der „Nachrichten“-Sender MSNBC – sollte sich auch überlegen, ob Journalismus wirklich heißt, weitgehend als Verlautbarungsorgan für den Mainstream der Demokratischen Partei zu agieren.
Was müssten die Demokraten tun, um die Wahl für sich zu entscheiden?
Vielleicht reicht Glück, die letzten Wochen haben gezeigt, dass sich politische Situationen schnell ändern können. Und vielleicht überrascht Harris mit einer guten Kampagne. Aber inhaltlich werden die Weichen schon jetzt falsch gestellt. Die Strategie, die sich jetzt abzeichnet, ist folgende: Harris war früher Justizministerin in Kalifornien und die Botschaft soll sein: Ich bin die Anklägerin und Donald Trump mit seinen zahlreichen Verurteilungen ist der Angeklagte, den ich quasi zur Verantwortung ziehe. Wie in einem schlecht geschriebenen Gerichtsdrama-Drehbuch. Das ist aber der vollkommen falsche Ansatz. Ich glaube nicht, dass es wahlentscheidend sein wird, ob Trump irgendwann mal Schmiergeldzahlungen an eine Pornodarstellerin geleistet oder seine Geschäftsbilanz kreativ ausgelegt hat, um einen günstigen Kredit zu kriegen. Das wird nicht funktionieren. Die Leute haben mit horrenden Lebenshaltungskosten zu kämpfen. Da funktioniert es nicht, ständig nur darauf hinzuweisen, wie schlimm Trump ist. Andererseits wäre es nicht sehr glaubwürdig, Kamala Harris nun mit einem Schutzhelm auf Gewerkschaftsveranstaltungen zu schicken. Im Wahlkampf muss die Person zum Inhalt passen. Die Demokraten müssten knallhart auf die sogenannten Bread-and-Butter-Themen setzen: Lebenshaltungskosten, Krankenversicherung, gute Löhne, Arbeitsbedingungen. Das mit dieser Kandidatin durchzuziehen, ist allerdings sehr schwer.
Laut Umfragen ist Donald Trump ähnlich unbeliebt wie Kamala Harris. Ist er nicht doch schlagbar?
Ja, natürlich ist er schlagbar. Vieles ist in Bewegung, niemand weiß, was noch alles vor der Wahl passiert. Alleine was in den letzten drei, vier Wochen passiert ist, reicht schon für einen mehrteiligen Kinoblockbuster. Alles ist möglich, aber einfach wird es nicht für die Demokraten.