Das Interview führte Lisa Felgendreff.

Seit Jina Mahsa Amini im September 2022 im Gewahrsam der Sittenpolizei getötet wurde, haben Sie weltweit Demonstrationen für die iranische Diaspora organisiert, hauptsächlich um die Proteste gegen das Regime im Iran zu unterstützen. In mehr als 150 Städten fanden gleichzeitig Kundgebungen statt und Sie waren auch an den iranischen Demonstrationen in Berlin beteiligt. Was waren Ihre Beweggründe?

Im Januar 2020 schoss die Flugabwehr der iranischen Revolutionsgarden eine Passagiermaschine der Ukraine International Airlines ab. Meine Frau und meine Tochter waren an Bord dieses Passagierflugs PS752. Deshalb habe ich die „Vereinigung der Familien der Opfer von Flug PS752“ gegründet, um Gerechtigkeit einzufordern. Der Abschuss des Flugzeugs ist ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Verbrechen, die das islamische Regime in Iran begangen hat. In den vergangenen 44 Jahren hat es Leid über Tausende von Familien gebracht. Als Jina Mahsa Amini im September 2022 vom Regime ermordet wurde, hat mich der Mut der jungen Frauen und Männer im Iran inspiriert. Wie viele andere in der Diaspora fühlte ich mich mit Millionen von Iranerinnen und Iranern in ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechten in unserem Land verbunden. Ich habe mitgeholfen, Menschen auf der ganzen Welt zusammenzubringen und mit Kundgebungen in Toronto am 1. Oktober und in Berlin am 22. Oktober unsere Solidarität zu zeigen. Was uns eint, ist der gemeinsame Kampf für Gerechtigkeit und Demokratie, den ich mir zur Lebensaufgabe gemacht habe.

Ist die Protestbewegung im Iran sechs Monate nach Mahsa Aminis Tod noch aktiv?

Angeführt wird diese Revolution von den iranischen Frauen und Jugendlichen, deren Widerstand ungebrochen ist und die weiterhin für friedlichen zivilen Ungehorsam einstehen. Was wir inzwischen als „Frau, Leben, Freiheit“-Revolution kennen, ist ein einschneidender Umbruch, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt und auch nicht mehr aufgehalten werden kann. In Videos sehe ich täglich, wie mutig Frauen dem Regime trotzen und ihre Kopftücher ablegen. Sie haben keine Angst, ihre Meinung zu äußern, und lassen sich von nichts und niemandem aufhalten. Sie weigern sich, ein Doppelleben zu führen, eines zu Hause und eines als Bürgerinnen zweiter Klasse in der Öffentlichkeit.

Diese Revolution findet im Iran statt, nicht in Berlin oder Toronto.

Frauen werden im Iran schon seit Langem unterdrückt. Dabei geht es nicht nur um den Hidschab-Zwang, sondern auch um das Recht, sich scheiden zu lassen, Erbansprüche geltend zu machen, nach einer Scheidung Umgang mit den Kindern zu haben und sich ohne Erlaubnis des männlichen Vormunds frei zu bewegen. All diese Rechte beschneidet das Regime seit Jahrzehnten massiv. Deswegen ist es enttäuschend, dass die Weltgemeinschaft so lange gebraucht hat, um zu begreifen, dass im Iran Geschlechter-Apartheid Realität ist. Inzwischen wächst eine neue Generation heran, die ein normales Leben führen will und sich nicht durch brutale Beschränkungen einengen lässt. Ich denke, dass es niemandem erlaubt sein sollte, ihnen ihre grundlegenden Menschenrechte vorzuenthalten. Diese jungen Menschen führen die Revolution an und es wird so lange immer neue Protestwellen geben, bis sie gesiegt haben.

Im Februar haben Sie zusammen mit den anderen Mitgliedern der „Allianz für Demokratie und Freiheit in Iran“ die „Mahsa-Charta“ veröffentlicht. Was hat Sie zu diesem Schritt veranlasst?

Was die Bevölkerung offensichtlich seit Langem sucht und einfordert, ist ein von gemeinsamen Prinzipien geleitetes Handeln. Zu unserer Allianz gehören Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund und verschiedenen politischen Überzeugungen und Sichtweisen. Einige sind Menschenrechtsaktivisten, andere kommen aus der Politik. Ich wollte Leute zusammenbringen, die für eine gemeinsame Sache kämpfen und sich dabei auf gemeinsame Grundprinzipien stützen. Deshalb sind wir an prominente Aktivistinnen und Aktivisten im Iran herangetreten und haben sie um ihre Meinungen, Erfahrungen und ihren Input gebeten. Schon in den ersten Entwürfen der Charta haben wir alles darangesetzt, ihre Vorschläge aufzugreifen und mit einzubeziehen. Die Wurzeln der Revolution liegen im Iran, und angeführt wird diese Bewegung von denen, die im Land den Preis dafür zahlen. Wir müssen alles tun, um sie zu unterstützen.

Einige kritisieren, die Charta bleibe zu sehr an der Oberfläche. Was sagen Sie dazu?

Diese Kritik ist mir durchaus bewusst, doch ich stelle auch fest, dass die Charta breite öffentliche Unterstützung erfährt. Die Charta ist kein Endpunkt, sondern ein Anfang mit gemeinsamen Werten. Es ist sehr schwierig, ein so breites Spektrum von Ideen in einem Dokument zusammenzubringen und damit eine gemeinsame Basis zu schaffen. Doch diese Charta ist der Beweis dafür, dass unterschiedliche Personen mit gänzlich verschiedenen politischen Überzeugungen sich zusammenfinden und konstruktiv miteinander arbeiten können. Ich bin der Meinung, dass die Revolution eine Volksbewegung innerhalb des Irans ist und sie die treibende Kraft bleiben sollte. Diese Revolution findet im Iran statt, nicht in Berlin oder Toronto. Mir geht es darum, eine Verbindung zwischen der iranischen Diaspora in der ganzen Welt und den Menschen im Land selbst herzustellen und die unterschiedlichen politischen Ansichten abzubilden – und ich will zeigen, dass wir im Grunde alle auf derselben Seite stehen, wenn es um demokratische Werte, Gerechtigkeit und Menschenrechte geht. Ich denke, das ist uns gelungen.

Eine der umstrittensten Figuren der Allianz ist Reza Pahlavi, der älteste Sohn des früheren Schahs. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat sich weder mit ihm noch mit der prominenten US-iranischen Journalistin und Frauenrechtlerin Masih Alinejad auf der Münchner Sicherheitskonferenz getroffen. Wie gehen Sie mit dieser Kritik an der Allianz um?

Ich habe kein Problem damit, mit Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugung zusammenzuarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Diese Vielfalt ist eine Stärke und ein wichtiges Merkmal der Allianz. Ich bin optimistisch, dass wir als Gruppe konstruktiv zusammenarbeiten können und gleichzeitig jeder seine individuellen Ziele verfolgen kann. Die Menschen im Iran haben es verdient zu sehen, dass die unterschiedlichen Ansichten politischer Persönlichkeiten sich sowohl im Iran als auch in der Allianz durchaus überschneiden und nebeneinander bestehen können.

Auch die führenden Politikerinnen und Politiker dieser Welt sollten den Willen des iranischen Volkes respektieren. Von Deutschland hätten wir uns eigentlich mehr diplomatische Unterstützung erwartet – insbesondere von Außenministerin Annalena Baerbock und Bundeskanzler Olaf Scholz. Ich weiß, dass sie die Islamische Republik Iran kritisieren, aber wir brauchen Taten. Sie sollten mit politischen Aktivistinnen und Aktivisten in der Diaspora und vor allem im Iran reden, die andere Ansichten vertreten, um den Umbruch im Land und die neue Generation besser zu verstehen, die diese Bewegung anführt und die Zukunft des Irans gestalten will.

In der Charta betonen Sie, wie wichtig die Unterstützung anderer demokratischer Staaten ist. Haben sich aus Ihren Bemühungen bereits umfassendere Kooperationen ergeben?

Es gibt fünf Faktoren, die eine Revolution auslösen können. Ein Faktor ist die Krise, die im Land herrscht. Wir erleben, wie sie sich jeden Tag verschärft, und diese Entwicklung ist unumkehrbar. Der zweite Faktor ist die Aushöhlung des Regimes von innen heraus, die schließlich Einzelne im Machtapparat dazu bringt, sich auf die Seite des Volkes zu stellen. Drittens sind da die Proteste und Kundgebungen auf den Straßen, die weitergehen werden. Viertens ist es der schwindende Rückhalt des Regimes, der unaufhaltsam ist. Das muss allerdings auch in der internationalen Gemeinschaft Anklang finden. Der fünfte Faktor besteht darin, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere die freie Welt, die unvermeidliche Realität im Land anerkennt. Da die Mitglieder der Allianz außerhalb des Irans leben, ist das der Fokus unserer Bemühungen.

Das Regime gibt Millionen von Dollar für die Anreicherung von Uran und seine Atompläne aus.

Es gibt Bereiche, in denen die demokratischen Länder uns helfen können – zum Beispiel bei der Sicherung des Internetzugangs im Iran. Seit den Anfängen dieser Bewegung versucht die Islamische Republik immer massiver, das Internet zu zensieren und einzuschränken. Alle Social-Media-Plattformen werden gefiltert, und die Kommunikation mit der Außenwelt oder mit Mitgliedern der Diaspora wird immer schwieriger. Ein weiteres wichtiges Thema ist die katastrophale Lage der politischen Gefangenen im Iran. Es ist nachvollziehbar, dass die europäischen Länder versuchen, einen Kommunikationskanal mit der Islamischen Republik Iran offen zu halten, aber sie sollten die furchtbare Menschenrechtssituation nicht aus dem Blick verlieren. Mehr als 100 politische und öffentliche Persönlichkeiten im Iran sind permanentem Druck ausgesetzt. Auf diese Menschen sollte die freie Welt ihre Aufmerksamkeit richten. Wir streben außerdem Sanktionen gegen die islamischen Revolutionsgarden an und fordern die internationale Gemeinschaft dazu auf, ihre Botschafterinnen und Botschafter abzuberufen und damit ein klares Signal an das Regime der Islamischen Republik zu senden. Auf solche konkreten Formen der Unterstützung warten wir immer noch und wir werden die demokratischen Länder bei diesen wichtigen Themen weiterhin in die Pflicht nehmen.

Saudi-Arabien und der Iran nähern sich nach Jahren der politischen Eiszeit wieder an, wobei China als Vermittler fungiert. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Die offensichtlichen Annäherungsversuche des Regimes gegenüber Saudi-Arabien beweisen einmal mehr, dass es seine Legitimität dadurch zu wahren versucht, dass es diplomatische Beziehungen zu anderen Ländern als Propagandainstrument einsetzt. Das wird weder die innenpolitische Krise des Regimes noch seine Probleme in der Region lösen. Chinas Beteiligung geschieht aus Eigeninteresse, und nichts an dieser Vereinbarung wird der iranischen Bevölkerung nützen.

Was Russland und China anbelangt, halte ich die jüngste Anklage gegen Wladimir Putin durch den Internationalen Strafgerichtshof für überaus wichtig. Seit einigen Jahren wird mit zweierlei Maß gemessen, darauf hat auch die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, hingewiesen. Wenn der politische Wille vorhanden ist, passiert auch etwas. Die Europäische Union sollte nicht die Augen verschließen.

Die EU hofft immer noch, an dem Atomabkommen mit dem Iran und an dem Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan (JCPOA) festhalten zu können. Meinen Sie, dass dieses Abkommen Thema sein sollte, falls es zu Verhandlungen kommt?

Erstens halte ich den JCPOA für einen hoffnungslosen Fall und für überholt. Jeder Versuch, den Aktionsplan wiederzubeleben, ist ein tragischer Fehler. Ich persönlich habe in den letzten drei Jahren die Erfahrung gemacht, dass der JCPOA die Bemühungen um Menschenrechte untergräbt, wie im Fall von Flug PS752. Die Europäische Union und die Verhandlungsgruppe sollten sich nicht allein auf den JCPOA konzentrieren. Die laufenden Verhandlungen tragen weder den jüngsten Entwicklungen im Iran noch dem Willen der iranischen Bevölkerung Rechnung. Sie ignorieren die Demokratiebestrebungen der Iranerinnen und Iraner – und das ist genau das, was das islamische Regime will.

Ich werde oft gefragt, was zuerst passieren wird: dass der Iran eine Atombombe erhält oder dass die Revolution Erfolg hat? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, aber wir müssen dem iranischen Volk den Rücken stärken und nicht den Tyrannen, die das Land regieren. Ein Umdenken der westlichen Länder könnte sicherstellen, dass ein solcher Wandel friedlich und in Richtung Demokratie erfolgt. Wer Kriegstreibern wie der Islamischen Republik Aufmerksamkeit schenkt, vergisst nur allzu leicht, dass sie an einem echten Abkommen oder einer ernst gemeinten Lösung nicht wirklich interessiert sind. Das Regime gibt Millionen von Dollar für die Anreicherung von Uran und für seine Atompläne aus. Gleichzeitig entmachtet und vernachlässigt es die Regionen im Iran, die unter den fehlgeleiteten nuklearen Ambitionen des islamischen Regimes zu leiden haben. Die Länder des Westens dürfen ihre demokratischen Werte nicht über Bord werfen, wenn sie mit einem Regime wie der Islamischen Republik verhandeln. Sonst begeht Europa einen großen Fehler, wie sich in der Ukraine gezeigt hat, und handelt in tragischer Weise ungerecht gegenüber der iranischen Bevölkerung.

Aus dem Englischen von Christine Hardung